Mehrheit der Mitglieder stimmt für Verhandlungen über eine rot-rot-grüne Koalition. Im Dezember soll der neue Ministerpräsident gewählt werden

Erfurt. Auf neutralem Grund, in einem Hotel unweit der Erfurter Krämerbrücke, werden sich Linke, SPD und Grüne in Thüringen an diesem Mittwochmittag zur ersten Runde ihrer Koalitionsverhandlungen treffen. Jede der drei Parteien entsendet dazu zwölf Vertreter. Der zu erarbeitende Koalitionsvertrag soll auf eine breite Basis gestellt werden, auch personell. Es geht darum, „möglichst viele Menschen mitzunehmen“, wie es in der Sprache der Polittechnokraten heißt. In diesem Fall handelt es sich um 36 Funktionäre für Thüringen, die „mitgenommen“ werden, vor allem aber andere „mitnehmen“ sollen.

Der Zeitplan auf dem Weg zur Bildung der ersten von der Linken geführten Landesregierung ist längst präzise vorbereitet worden; Gleiches gilt für die inhaltlichen Pläne, die bereits in den langwierigen „Sondierungsgesprächen“ nach der Landtagswahl weitgehend festgezurrt worden waren. Nichts wird, so scheint es, dem Zufall überlassen. Dieses Bemühen soll den Zweifeln in den eigenen Reihen vorbeugen, der öffentlichen Kritik, die jüngst – fragend und vorsichtig formuliert – sogar vom Bundespräsidenten geäußert worden ist. Vor allem aber gründet die Mühe, alle einzubinden und alles abzusichern, auf der schmalen Ein-Stimmen-Mehrheit der drei Parteien im Landtag zu Erfurt.

Das in der Nacht von Montag zu Dienstag beendete Mitgliedervotum der Thüringer SPD war in diesem Bemühen um Präzision ein Unsicherheitsvotum. Wie bloß sollte das – weitgehend unbekannte – sogenannte einfache Mitglied der Sozialdemokraten abstimmen? Dem neuen SPD-Landeschef Andreas Bausewein stand die Erleichterung am Dienstag ins Gesicht geschrieben. Seine Partei hat eine weitere Hürde auf dem Weg zu der umstrittenen Koalition genommen. „Och, ganz gut. Ich bin zufrieden“, antwortete Bausewein am Mittag auf die Frage nach seinem Befinden.

Zu diesem Zeitpunkt war das Ergebnis des SPD-Mitgliedervotums noch nicht veröffentlicht worden; Bausewein indes kannte das Resultat. Mehrere Stunden lang hatten zahlreiche Helfer im großen Sitzungssaal des gesichtslosen Hauses der Deutschen Rentenversicherung in Erfurt die Abstimmungsunterlagen geprüft und ausgezählt. Von den 4311 Thüringer Sozialdemokraten hatten 3334 Mitglieder abgestimmt, das entspricht einer Beteiligung von 77,5 Prozent. Es gab 195 ungültige Stimmen. Von den 3139 gültigen Stimmen entfielen 2195 (69,9 Prozent) auf das Ja, 944 Mitglieder (30,1 Prozent) votierten mit Nein. Der thüringische SPD-Landesvorstand hatte vor zwei Wochen einstimmig die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit Linken und Grünen empfohlen.

SPD-Landeschef Bausewein würdigte die „sehr hohe Teilnahme“ und das „deutliche Votum“. Führende Köpfe der thüringischen SPD hatten ziemlich präzise eine 70-prozentige Zustimmung ihrer Mitgliedschaft prognostiziert. Bausewein sprach von sich aus an, dass eine deutlich geringere Zustimmung, etwa von nur 51 Prozent, seine Partei vor weitere Schwierigkeiten gestellt hätte. Mit Blick auf die Anfang Dezember geplante Wahl Bodo Ramelows (Linke) zum Ministerpräsidenten sagte er: „Alle zwölf Abgeordneten der SPD stehen.“ So äußert es auch der Fraktionsvorsitzende Matthias Hey. Indes: Es handelt sich um eine geheime Wahl.

Die prekäre Lage seiner Partei zwischen 12-Prozent-Wahlergebnis und der Kür des ersten Linken zum Regierungschef eines Landes in Deutschland redet Bausewein gar nicht schön. Ob die SPD nun nicht im Umgang mit der Linken vor einem „Spagat“ stehe, wurde er während seiner Pressekonferenz gefragt. „Wir machen seit 20 Jahren einen Spagat zur Frage, wie wir es mit der Linken halten“, antwortete Bausewein. Die SPD sei nun einmal eine „heterogene Partei“, und vor diesem Hintergrund sei die 70-prozentige Zustimmung der Basis ein „deutliches Ergebnis“. Jedes Mitglied dürfe seine Meinung äußern, sagte Bausewein, „aber es gehört auch zur Demokratie, dass Mehrheiten entscheiden“.

Um Zurückhaltung bemüht, aber doch erkennbar verärgert äußerte sich der Erfurter Oberbürgermeister über die kritischen Fragen, die Bundespräsident Joachim Gauck zur Linken gestellt hatte. Gewiss, erstmals solle die Linke „Seniorpartner“ in einer Landesregierung werden, sagte Bausewein, Regierungserfahrung an sich besäße die Partei jedoch längst. Er verwies auf frühere, freilich von der SPD geführte, rot-rote Koalitionen in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin sowie auf das derzeitige entsprechende Bündnis in Brandenburg. „Die Partei kommt ja nicht völlig aus dem Nichts“, konstatierte Bausewein.

So gut organisiert und abgestimmt die nun beginnenden Koalitionsverhandlungen sein mögen, so stehen Linke, SPD und Grüne noch vor einigen Hürden. Die Linke-Kritiker innerhalb der SPD hoffen nun auf das Mitgliedervotum der Grünen, die vielleicht noch etwas „bürgerbewegter“ geprägt sind als die SPD. Sollen die Nachfolger des Neuen Forums, die Initiatoren der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 dem Projekt Rot-Rot-Grün doch noch einen Strich durch die Rechnung machen? Abstimmen sollen die Mitglieder der Grünen – und die der Linken – über den Koalitionsvertrag, der am 19. oder 20. November fertiggestellt sein soll. Die Wahl des Ministerpräsidenten wird für den 5. oder 12. Dezember angepeilt.

Am 11. Dezember tagt die Ministerpräsidenten-Konferenz. Wer Thüringen hier im Kreis der 16 Regierungschefs vertreten wird, ist also noch offen. Die amtierende Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) müsste bei einer Wahl Ramelows zu ihrem Nachfolger damit rechnen, auch den CDU-Landesvorsitz zu verlieren.