Vor 25 Jahren fiel die Mauer, und die steilste politische Karriere in Deutschland begann. Heute wird Bundeskanzlerin Angela Merkel 60 Jahre alt. Sie ist auf dem Boden geblieben.

Ein Tisch in der Ecke, dunkles Holz, eine Kerze steht darauf. „Da saß se“, sagt Hansi Höller, 61, Wirt der Gaststätte Zur alten Gaslaterne im Thälmann-Park in Prenzlauer Berg. An diesem Tisch saß an dem Tag, der ihr Leben verändern würde, eine junge Physikerin, 35 Jahre alt. Wie immer ging sie am Donnerstag nach der Sauna in ihre Stammkneipe, über sich 18 Stockwerke Plattenbau, drinnen Gemütlichkeit und Bier. Später, als klar war, dass die Mauer jetzt wirklich auf war, ging sie nach West-Berlin, wie so viele andere Menschen an diesem Abend. Mal schauen, wie es da drüben so aussieht. Es war der 9. November 1989.

Knapp 25 Jahre später fliegt diese Frau nach China. Das ist schon lange nichts Besonderes mehr für sie. Es ist ihre siebte China-Reise als Kanzlerin. In den USA war sie 15-mal. Sie ist jetzt im neunten Jahr ihrer Kanzlerschaft und so stark wie nie zuvor. Es war ein weiter Weg.

Eine Frau. Aus dem Osten. Eine Protestantin. Geschieden. Ohne Kinder. Ohne Karriere in der Jungen Union. Angela Merkel ist – auch wenn man ihr das nicht sofort ansieht und anmerkt – eine Rebellin.

Sie hat die CDU, die bürgerlichste, die rheinischste aller deutschen Parteien, umgekrempelt. Sie hat die Wehrpflicht abgeschafft und das Elterngeld eingeführt, die Kernkraftwerke abgeschaltet und mit der SPD den Mindestlohn durchgesetzt.

Was für eine Karriere: zweite Sprecherin der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière, Familienministerin, Umweltministerin, CDU-Generalsekretärin, CDU-Vorsitzende, Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Kanzlerkandidatin, Kanzlerin, mächtigste Frau der Welt. Und doch wird sie Mutti genannt, seit Jahren schon. Erst hinter vorgehaltener Hand, mittlerweile ziemlich offen.

Angela Merkel beherrscht die CDU wie vor ihr nur Konrad Adenauer oder Helmut Kohl. Sie hat in ihrer Karriere viele Männer hinter sich gelassen. Den einen ist sie davongelaufen, die anderen hat sie abgeschüttelt. Lothar de Maizière, Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz, Edmund Stoiber, Gerhard Schröder, Roland Koch, Christian Wulff. Und das sind nur die wichtigsten. Um zu verstehen, was diese Frau ausmacht, sollte man mit Männern sprechen, die sie gut kennen.

Lustig ist diese Frau nur im kleinen Kreis

„Sie kann ja richtig witzig sein.“ Wolfgang Bosbach kann sich noch gut an den Satz erinnern. Er war mit seiner ältesten Tochter Caroline beim Sommerfest der Unions-Fraktion. Und Caroline war „völlig verblüfft über den Humor und die Schlagfertigkeit von Angela Merkel“. Wolfgang Bosbach, 62, CDU, sitzt in seinem Büro im Bundestag, zurückgelehnt und entspannt, obwohl er Prostatakrebs hat und die Ärzte ihm nicht mehr helfen können. „Wir Rheinländer sind ja fast beleidigt, wenn man uns nicht für weltoffen und witzig hält“, sagt Bosbach. Bei Angela Merkel sei das anders. Manchmal habe er das Gefühl, dass es ihr unangenehm sei, wenn das bekannt würde. Im großen Kreis sei sie ernsthaft und zurückhaltend. „Aber als Kanzlerin muss man das wohl auch sein.“

2004 hat Bosbach dann noch eine andere Seite an ihr kennengelernt. Eine mitfühlende, sorgenvolle. Er lag in der Charité, hatte einen Herzschrittmacher bekommen. Da saß Angela Merkel an seinem Krankenbett, mehr als eine Stunde. „Das war nun wirklich nicht nötig gewesen“, sagt Bosbach. Und freut sich noch heute, wenn er an ihren Besuch denkt.

Merkel und Bosbach kennen sich seit 1994, da wurde er erstmals in den Bundestag gewählt. In den 90er-Jahren ging es einmal um ein kompliziertes Gesetz zu den Stasi-Unterlagen, und vor einem Treffen mit dem damaligen Behördenleiter Joachim Gauck fragte Merkel Bosbach um Rat. „Sie war nach 20 oder 30 Minuten in dem schwierigen Stoff schon so fit, dass man meinen könnte, sie hätte sich schon seit Jahren damit befasst“, sagt Bosbach. „Da habe ich wirklich gestaunt, welche rasche Auffassungsgabe sie hat.“ Bosbach glaubt, dass das zu ihrem Erfolgsgeheimnis gehört: „dieses Hineinarbeiten selbst in kleinste Verästelungen“. Hinzu käme ihre Art, Politik zu machen. Viele seien ja begeistert gewesen vom forschen Politikstil und dem Machogehabe Gerhard Schröders, sagt Bosbach. Angela Merkel agiere viel zurückhaltender. „Sie wartet gerne ab.“ Sie beobachte. Und entscheide dann zum richtigen Zeitpunkt.

„Haben Sie den Guttenberg-Film auf Sat.1 gesehen?“ Michael Glos ist ein bisschen amüsiert, wenn er von diesem Sonnabendnachmittag erzählt, es war der 7. Februar 2009. „Da gibt es die Szene, wo Herr Professor Sauer ans Telefon geht und sagt: ,Angela, dein Wirtschaftsminister.‘ So war es auch gewesen. Nur war sie im Auto und nicht in ihrer Küche. Angela Merkel hat dann gesagt: ,Du willst zurücktreten? Das kommt gar nicht infrage.‘ Ich habe ihr gesagt: ,Angela, die Kugel ist aus dem Rohr. Ab 18 Uhr vermeldet dpa meinen Rücktritt.‘“

Der junge Baron war der Einzige, der ihr hätte gefährlich werden können

Michael Glos, 69, sitzt in seinem Büro an der Friedrichstraße und denkt über sein Verhältnis zur Kanzlerin nach. Heute ist der Franke Berater beim Gipshersteller Knauf, von 1993 bis 2005 war er CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, von 2005 bis 2009 Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Merkel. Nur wenige Menschen haben im Lauf der Jahre so eng mit Merkel zusammengearbeitet wie Glos.

Mit seinem Rücktritt, den er damit begründete, dass er vor der Wahl Platz machen wollte für die nächste Generation, hat er Merkel den ehrgeizigen Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ins Kabinett gespült. Hätte Guttenberg nicht wegen seiner plagiierten Doktorarbeit zurücktreten müssen, würde heute vieles anders aussehen. Der junge Baron aus Bayern war wohl der Einzige, der Merkel irgendwann hätte gefährlich werden können. Er war der beliebteste Politiker Deutschlands, manche sahen in ihm eine Art Heilsbringer. Und er wollte ganz nach oben. Heute spricht keiner mehr über ihn. Warum hat es Merkel ganz nach oben geschafft – und warum kann sie sich da halten?

Willensstärke, sagt Glos. Und Intelligenz. „Sie gehört zu den intelligentesten Menschen, die ich je getroffen habe“, sagt er. „Du hast einen Satz halb gesagt, da hat sie schon gewusst, wie er zu Ende geht.“ Er habe sie oft beobachtet: Bei der zweiten Hälfte eines Satzes langweile sie sich bereits. „Aber sie ist dann höflich und unterbricht ihr Gegenüber nicht.“

Glos war 2002 für Stoiber. „Ich war nicht unschuldig daran, dass damals Edmund Stoiber Kanzlerkandidat wurde“, sagt er. „Nicht weil ich der Meinung war, dass Angela Merkel dafür ungeeignet sei.“ Glos dachte: Die Chancen sind mit Stoiber besser. Es ging um die Wirtschaft und auch um die Arbeitslosenzahlen, und Glos war der Meinung, man müsse gegen SPD-Kanzler Schröder mit einem erfolgreichen Ministerpräsidenten antreten. „Schröder stand 2002 ja noch im vollen Saft.“ Heute ist Michael Glos einer der wenigen Politiker, die von sich sagen, sie seien mit Angela Merkel befreundet. Glos sagt das so: „Es hat sich über die Jahre eine Freundschaft entwickelt. Sie war auch mal bei mir auf Weinfesten zu Besuch. Wir trinken beide gern guten Wein.“

Viel wissen die Deutschen eigentlich nicht über Angela Merkel. Sie braucht nur wenig Schlaf, etwa vier Stunden, heißt es. Sie wohnt mit ihrem Mann Joachim Sauer, der Professor für Physikalische und Theoretische Chemie an der Berliner Humboldt-Universität ist, in einem Altbau Am Kupfergraben – an der Museumsinsel, gegenüber vom Pergamonmuseum. Sie hat ein kleines, einfaches Haus in der Uckermark, da verbringt sie gern mit ihrem Mann die Wochenenden. Sie besucht gern die Wagner-Festspiele in Bayreuth. Sie kocht und backt gern einfache Speisen, etwa Pflaumenkuchen. Sie dirigiert ihre Partei und ihr Kabinett per SMS. Ihr Handy wurde von der NSA abgehört. Ihr Lieblingsfilm ist „Die Legende von Paul und Paula“, einer der erfolgreichsten Filme der DDR. Sie mag Fußball, ihre fast kindliche Freude daran ist an ihrem Torjubel abzulesen, nur ihre eng geschnittenen Blazer hindern sie daran, die Arme bis ganz nach oben zu reißen. Und sie geht gern selbst einkaufen.

Sie kauft Kohlrabi, Oliven, Weißwein und trägt die Einkaufstüte selbst

Die „Bild“-Zeitung veröffentlichte im März 2012 ein Foto von Angela Merkel. Es zeigt, wie sie nach einem dieser endlosen EU-Gipfel an der Kasse des Ulrich-Supermarkts an der Mohrenstraße in Berlin-Mitte steht. Sie kauft unter anderem Paprika, Kohlrabi, Oliven und eine Flasche Weißwein. Der Tourist, der das Foto mit dem Handy gemacht hat, gibt zu Protokoll: „Frau Merkel hat sogar die Einkaufstüte selbst getragen.“Die Kanzlerin, sagt Supermarktleiter Stefan Vetter, sei eine Kundin wie jede andere. „Wir und unsere Stammkunden nehmen sie schon gar nicht mehr richtig wahr.“ Nur Touristen falle das natürlich auf. „Die bitten dann um ein Autogramm“, sagt Vetter.

Es kann gut sein, dass sie das braucht. Dass der Supermarktbesuch sie erdet. Dass sie die Lebensmittel in die Hand nehmen muss. Dass sie wissen muss, was ein Apfel und was ein Schnitzel kostet. Der Supermarkt als Gegenprogramm zu den EU-Gipfeln. Zum Euro-Rettungskurs. Zu den schwierigen Telefonaten mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über die Ukraine. Zu der abgeschotteten Welt des Kanzleramtes. Zu den harten Entscheidungen, die sie da oben in ihrem 140 Quadratmeter großen Büro im siebten Stock immer wieder treffen muss.

Wolfgang Bosbach wollte 2005 Innenminister werden. „Ich hatte mir nicht ganz grundlos Hoffnungen gemacht“, sagt er. Doch dann wurde es Wolfgang Schäuble (CDU). Merkel hat Bosbach damals erklärt, warum sie welche Personalentscheidungen getroffen hat. „Fest versprochen wurde nie etwas, und deshalb hatte ich auch keinen Grund zur Bitterkeit“, sagt Bosbach. 2011 war er gegen den Euro-Rettungskurs der Kanzlerin. Weil er für den Grundsatz war: Kein Staat haftet für die Schulden eines anderen Landes. Bosbach sagt heute über Merkel: „Auch wenn wir hier und da unterschiedliche Auffassungen haben, würde ich mich für sie in jedes Gefecht stürzen.“

Sie würde nicht im Traum daran denken, zu erzählen, ob sie einen Teddy hat

Der erste Sonntag im Juli. Hillary Clinton ist in Berlin. Wer sie im Schiller-Theater sieht, wie sie Moderator Christoph Amend umschmeichelt, wie sie geschickt Persönliches mit Politischem verknüpft, wie sie dem Publikum gefallen will, dem wird schnell klar, wie bodenständig und langweilig, wie verlässlich und subtil Angela Merkel ist. Clinton signiert ihr Werk mit „Hillary“, als wäre jeder Käufer ein guter Freund von ihr. Die Bundeskanzlerin schreibt kein Buch, auch wenn ihr schon oft dazu geraten wurde. Clinton erzählt, dass sie einen Plüschbären in ihrem Büro hat, und wenn sie nicht gut drauf ist, drückt sie diesen Teddy, der spielt dann „Don’t worry, be happy“. Angela Merkel hat wahrscheinlich keinen Teddy und würde im Traum nicht daran denken, zu erzählen, ob sie einen Teddy hat oder nicht.

„Natürlich Meryl Streep“, ruft Hillary Clinton, wenn sie gefragt wird, wer sie denn in einem Hollywood-Film spielen soll. Die beste Schauspielerin der Welt, eine dreifache Oscar-Preisträgerin, natürlich. Angela Merkel würde bei dieser Frage wahrscheinlich so etwas sagen wie: „Das müssen andere entscheiden, vom Filmgeschäft habe ich zu wenig Ahnung, ich konzentriere mich auf die Politik.“

Anruf in Hollywood. Die „Bild am Sonntag“ hat geschrieben, dass 1000 Gäste zu Angela Merkels Geburtstag eingeladen sind. Auch Ralf Möller, 55, der als Bademeister in Recklinghausen begann, dann Bodybuilder wurde und schließlich Schauspieler. So wie Arnold Schwarzenegger, sein großes Vorbild und heute ein guter Freund. Möller engagierte sich für verschiedene Projekte in Deutschland, flog nach Afghanistan, um die Truppe zu unterstützen. Er brachte den Bundeswehrsoldaten auch Fitnessgeräte mit. Möller kennt Merkel seit elf Jahren. Aus Los Angeles schickt er Mails mit alten Fotos von ihnen, man sieht eine schüchtern lächelnde Merkel und einen selbstbewussten 1,96-Meter-Schrank.

„Happy Birthday von Arnold und Ralf aus Kalifornien“

Möller spricht wie viele Deutsche, die schon lange in den USA wohnen, mit einem leichten amerikanischen Akzent. Er sagt, er drehe nächstes Jahr einen Film mit Russell Crowe und Michael Fassbender, und gerade seien Kostümproben und „Script-Meetings“. Deshalb könne er nicht zu Merkels Geburtstag kommen. Auch Schwarzenegger, der Ex-Gouverneur von Kalifornien, könne nicht kommen. Arnold drehe gerade „Terminator 5“. Möller ist froh, dass ein Journalist aus Deutschland anruft. So kann er seine Glückwünsche übermitteln. Er sagt: „Happy Birthday von Arnold und Ralf aus Kalifornien!“

Am 9. November 2004 kehrte Angela Merkel noch einmal in den Thälmann-Park zurück. Der Mauerfall war 15 Jahre her, und Angela Merkel, mittlerweile CDU-Chefin, feierte in der „Gaslaterne“ ein Fest. „Annette Schavan war da. Und Michael Glos, als Einziger von der CSU“, sagt Hansi Höller. Da habe man schon sehen können, wer später in ihrem Kabinett sitzt. Es gab deftige Speisen, Buletten und so. „Die waren happy hier“, sagt Höller. In der „Gaslaterne“ hängt ein Foto von Angela Merkel und Hansi Höller. Sie steht hinter dem Tresen, zapft Bier. Er steht daneben und lacht. Merkel hat es ihm geschickt und draufgeschrieben: „Mit den besten Wünschen“. „Man muss Frau Merkel bewundern“, sagt Hansi Höller. Also nicht, dass er jetzt unbedingt CDU wählen würde. „Aber sie ist ‘ne nette, sympathische Frau.“