Viele Arbeitslose, hohe Abwanderung, bröckelnde Wirtschaft – der Jade-Weser-Port sollte die Stadt endlich nach vorn bringen. Aber auch er kommt nicht in Gang. Der Glaube an eine bessere Zukunft lebt trotzdem.

Eigentlich hätte ein Schiff kommen sollen an diesem Tag. Dann wäre zumindest ein paar Stunden lang etwas zu tun gewesen. Jetzt sitzen die Männer in der Kantine, auf den Tischen stehen leere Kaffeetassen. Die Frühschicht beginnt um 6 Uhr. „Die Maschinen müssen trotzdem bewegt werden“, sagt Maik Wilke, 39. Ein paar Mal fahren die 15 Meter hohen Hafenkräne dann hin und her. Container werden aufgenommen und wieder abgestellt. „Das ist ein ganz geregelter Ablauf, nur ohne Ladung“, sagt der kräftige Mann in der blau-orangen Arbeitsjacke des Hafenbetreibers Eurogate. Inzwischen stehen die riesigen Anlagen wieder still, auf dem Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven hört man nichts außer Wind und Möwengeschrei.

Zweimal in der Woche macht ein Schiff an der 1,7 Kilometer langen Kaje fest. Manchmal nicht mal zwei. Im vergangenen Jahr wurden 76.000 Container umgeschlagen, Betreiber Eurogate hatte mit dem Zehnfachen gerechnet. Möglich wären 2,7 Millionen. Aber bislang fahren die großen Pötte am einzigen Tiefwasserhafen Deutschlands vorbei, nach Bremerhaven und nach Hamburg. Oder sie waren vorher in Rotterdam. Das Milliardenprojekt am Jadebusen, 160 Hektar groß und mit eigenem Autobahnanschluss, droht zum Flop zu werden. Zwölf Monate waren die 340 Beschäftigten in Kurzarbeit. Seit März dieses Jahres verzichten sie auf 15 Prozent der Jahresbezüge, damit keine Stellen gestrichen werden. Jeden Tag sind zehn Männer in zwei Schichten eingeteilt, die anderen sitzen zu Hause – und warten. „Das ist schwer auszuhalten, auch wenn man dafür bezahlt wird“, sagt Maik Wilke, der mit seiner Familie aus dem sächsischen Zwickau nach Wilhelmshaven gekommen war. Für eine bessere Zukunft. Jetzt ist er im Betriebsrat und hofft, dass der Hafen doch noch in Gang kommt. Ihm bleibt auch kaum etwas anderes übrig. Jobangebote sind rar in der Region.

Genau das sollte der Jade-Weser-Port ändern. Seit den ersten Planungen war damit auch die Hoffnung auf einen Neustart für Wilhelmshaven – „Schlicktown“, wie es die Einheimischen nennen – verbunden. Von „Jahrhundertchance“ und Tausenden neuen Arbeitsplätzen war die Rede, Sigmar Gabriel (SPD) und Christian Wulff (CDU) warben als niedersächsische Ministerpräsidenten für das Infrastrukturprojekt im XXL-Format. Kritiker, die vor Gigantismus warnten, mussten sich als Miesmacher beschimpfen lassen. Nach zahlreichen Verzögerungen wurde im September 2012 die Einweihungsparty gefeiert. Seitdem ist der Hightech-Hafen vor allem eins: leer. So leer, dass er gerade einem „Tatort“ als geisterhafte Kulisse diente. Das ist ganz schön bitter. Arbeitslosigkeit, Überalterung, Wohnungsleerstand – die Probleme in Wilhelmshaven sind die alten, obendrein gibt es jetzt noch Spott und Häme.

Oberbürgermeister Andreas Wagner, 46, sitzt im zweiten Stock des Rathauses und lächelt gegen das Negativimage seiner Stadt an. Nein, Beileidsbekundungen habe er noch nicht bekommen, sagt der alerte CDU-Mann. Er ist ein Quereinsteiger aus der Wirtschaft, 2011 hat er seinen Vorgänger von der SPD nach 25 Amtsjahren abgelöst. Aber die schlechten Zahlen kann auch er nicht wegdiskutieren. Mit 12,4 Prozent ist die Arbeitslosenquote in der kreisfreien Stadt (75.800 Einwohner) doppelt so hoch wie im niedersächsischen Landesschnitt. Vor allem die jungen Leute gehen in Scharen. 2013 waren es 4931. Fast genauso viele sind laut amtlicher Statistik zugezogen. Darunter viele Hartz-IV-Empfänger, weiß Wagner. Denn: Das Leben in Wilhelmshaven ist günstig, eine 120-Quadratmeter-Wohnung kann man für 600 Euro mieten.

„Es sieht nicht rosig aus“, sagt der Stadtchef. Das Durchschnittsalter liegt bei Mitte 40. Manche nennen Wilhelmshaven auch „Deutschlands größtes Altenheim“. Es ist schwierig, Ärzte oder Lehrer in die Stadt zu holen. Wagner sagt: „Wir arbeiten dran.“ Es gibt jetzt einen Demografie-Beauftragten. Aus 14 Grundschulen hat er neun gemacht, die Innenstadt-Gymnasien an einem Standort vereint. Zum ersten Mal seit Jahren ist der Haushalt ausgeglichen, allerdings sind bei einem Gesamtvolumen von 200 Millionen Euro gerade mal zehn Prozent aus Gewerbesteuern selbst erwirtschaftet. Da wäre ein prosperierender Jade-Weser-Port eine schöne Sache. „Das ist keine Frage, ob es losgeht“, sagt der Oberbürgermeister, und seine Stimme wird jetzt sehr bestimmt, „sondern wann.“ Der Hafen, sagt er, sei eben für die Zukunft gebaut, vorausschauend mit „Vorratscharakter“.

Viele Wilhelmshavener aber haben es satt, die Versprechungen, das Warten. „Der Hafen kommt 25 Jahre zu spät. Jetzt ist doch klar, dass sich Städte wie Hamburg und Bremerhaven die Butter nicht vom Brot nehmen lassen“, schimpft Detlef Meyer, 54. Früher hat er auf der Jade-Werft gearbeitet, jetzt führt er ein Taxiunternehmen. Jeden Tag ist er auf den Straßen der Stadt unterwegs, die sich um die 1869 von Preußenkönig Wilhelm I. gegründeten Marinegarnison gebildet hat. Meyer kennt die schönen Ecken am Großen Hafen, der Südstrandpromenade oder an der Kaiser-Wilhelm-Brücke aus dem Jahr 1907. Die größte Doppeldrehbrücke Europas ist das Wahrzeichen Wilhelmshavens. Meyer wäre so gern stolz auf seine Heimatstadt, in der der König Prachtboulevards anlegen ließ nach dem Vorbild von Berlin und Hamburg, wo aber nach der letzten Zählung im Mai 2011 fast 3000 Wohnungen leer stehen. Wie viele es heute sind, weiß niemand. Einst bürgerliche Viertel verelenden. Knapp ein Drittel der 160 Ladengeschäfte steht leer. Erst vor einigen Wochen sorgte eine Prügelattacke für schlechte Presse. Zwei Jugendliche hatten auf eine 14-Jährige eingeschlagen – und das Ganze hinterher ins Netz gestellt. Klar, dass es republikweit böse Kommentare hagelte. Mal wieder.

Im Bavaria-Krug an der Rheinstraße merkt man davon nichts. Kurz nach 18 Uhr sind die Plätze am Tresen besetzt. Ein kleines Bier kostet 1,30 Euro. Seit Jahren hat Wirt Wolfgang Willig, 59, den alle hier „Wolle“ nennen, die Preise nicht erhöht. Warum auch, es geht auch so. „Die Stadt hat kein Glück mit industriellen Großansiedlungen“, sagt Holger Kaiser, 55, und zuckt mit den Schultern. In den vergangenen Jahrzehnten schlossen viele Firmen an dem ehemaligen Industriestandort, allein das Aus für das Olympia-Schreibmaschinenwerk 1991 kostete 3600 Jobs. Immerhin hält die Marine am Standort fest. „Wir sind nicht totzukriegen“, sagt Kaiser. Er trägt die Haare lang und schlägt sich als Rockmusiker durch. Nach ein paar Jahren in Hamburg ist er zurück in Wilhelmshaven. Er tritt mit Bands auf, die Kaiser Wilhelm & the Bridges heißen oder einfach nur Kaiser, außerdem bekommt er Hartz IV. Seine Tochter studiert in Hamburg. Auch zwei Söhne von Kneipier Willig sind längst weg, in Berlin. Er sagt: „Ich lebe gern hier.“ Und zapft noch ein Bier.

Da klingt so etwas wie Trotz durch. „Wilhelmshaven hat keine Lobby“, sagt Oda Griesemann, 51. Gemeinsam mit ihrem Mann hat die Architektin ein ehemaliges Marine- und Schulgebäude zum schicken Büro mit Wasserblick umgebaut. Von hier führt sie den Kampf für den Erhalt der Südzentrale, einem ehemaligen Kraftwerk mitten in der Stadt, das seit Jahren verfällt. Inzwischen ist aus der Denkmal-Initiative eine kleine Bürgerbewegung geworden. Das ist neu für Wilhelmshaven. „Es gibt hier eigentlich kein Wirgefühl“, sagt Griesemann. Aber irgendwie identifizieren sich die Menschen mit dem heruntergekommenen Gebäudekomplex. Noch ist unklar, wie es weitergeht. Die Südzentrale ist im Privatbesitz, Rückkauf und Sanierung würde die Stadt mehrere Millionen Euro kosten.

„Es ist verrückt: Für den Hochglanzhafen interessiert sich in der Stadt niemand so richtig, aber bei der Südzentrale lodert es“, sagt Frank Morgenstern, 52. Aber natürlich weiß der Pastor der Christus- und Garnisonkirche auch um die Hoffnungen, die sich für viele mit dem Zukunftsprojekt Hafen verknüpfen. Er spricht mit Langzeitsarbeitslosen, die jetzt zwar Arbeit haben – aber nichts zu tun. „Das nagt am Selbstwertgefühl.“ Trotzdem sei es nicht so, dass die ganze Stadt zittere und den ganzen Tag darauf warte, ob ein Schiff komme. „Es hätte“, sagt Kreispfarrer Christian Scheuer, 45, „eine große Depression ausbrechen können. Aber die Wilhelmshavener sind sturmerprobt.“

Und es könnte ja alles auch noch ganz anders kommen. Der Jade-Weser-Port liegt wirklich günstig. Der Weg durch die Elbe bis nach Hamburg ist 70 Seemeilen lang, von der offenen See bis Wilhelmshaven sind es nur 23 Seemeilen. Vor allem die ganz großen Frachter mit einem Tiefgang von bis zu 16,5 Metern können abgefertigt werden. In Hamburg geht das nicht, selbst wenn die Elbvertiefung kommt. Anfang des Jahres hatte Eurogate-Chef Thomas Eckelmann mehr Ladung am Jadebusen angekündigt. Die Hoffnung hat einen Namen: P3. Das steht für ein Bündnis der drei größten Reedereien der Welt, die bereits angekündigt haben, den einzigen Tiefwasserhafen Deutschlands in den Fahrplan aufzunehmen. Von zwei weiteren Containerschiffen pro Woche ist die Rede, dazu kommen drei bis vier Feeder. Aus den USA und von der EU gab es inzwischen grünes Licht für die neue Allianz, die Zustimmung der Wettbewerbshüter in China und Südkorea war für Ende Mai avisiert. Der Termin ist verstrichen.

Das Warten geht weiter. „Wenn es nichts wird, sind unsere Arbeitsplätze gefährdet“, sagt Volker Göhlich, 48. Und man hört dem Betriebsratschef, der sich einen Schild aus Ironie gegen die Unsicherheit zugelegt hat, die Bitterkeit an. Mit Maik Wilke und Lars Habben, 38, steht er auf einem Balkon des Hafengebäudes. Von hier hat man einen guten Blick auf den Port im Schlick – und die Schiffe, die in der Ferne vorbeifahren. Natürlich hoffen sie weiter: dass alle im Boot bleiben, Landesregierung und Betreiber, die bislang nur Verluste haben. Dass es doch noch ein gemeinsames Konzept für alle norddeutschen Häfen gibt. „Wir wollen zusammenarbeiten, nicht gegeneinander“, appellieren die Betriebsräte. Vorbereitet sind die Männer. „Wir schaffen 30 Container in der Stunde. Damit müssen wir uns nicht verstecken“, sagt Göhlich. Wenn ein Schiff kommt. Jetzt heißt es, im Herbst könnte die Reeder-Allianz starten und Umschlag bringen. Ein Problem wird sich bis dahin erledigt haben. Die Vögel, die jetzt auf einem der Van Carrier nisten, sind dann weg – und der Containertransporter darf wieder bewegt werden.