Diese sechs Politiker aus Deutschland haben die größten Chancen, nach der Wahl am kommenden Sonntag als Gewinner dazustehen

Berlin/Brüssel. Der Endspurt für die Europawahl am Sonntag hat begonnen, das Personalkarussell nimmt an Fahrt auf. Sechs Deutsche haben gute Chancen auf einflussreiche Posten.

Martin Schulz will Präsident der EU-Kommission werden

Schulz hat seine ganze politische Karriere auf die EU gebaut, ist seit 1994 im Europaparlament, seit zweieinhalb Jahren als Präsident. Das war der entscheidende Schritt bis an die Schwelle der EU-Kommission, die der Sozialdemokrat nach der Wahl führen will. Schulz ist ein Mann mit gewaltigem politischen Gestaltungswillen, der sich nicht aufs Verwalten beschränken will und kann.

Dem Amt des Parlamentspräsidenten und auch dem Parlament hat er durch Beharrlichkeit und Poltern, durch Machtspiele und Kompromissbereitschaft zum Einflussgewinn verholfen. Das gesteht selbst der politische Gegner zu, dem das recht unheimlich wurde.

Schulz will Kommissionspräsident werden. Schulz wäre der Erste aus den Reihen des Parlaments, der Erste, der zuvor nicht schon Premierminister war, der erste Deutsche. Seine Machtbasis ist das Parlament – und seine Gegner sitzen unter den Regierungschefs, der Brite David Cameron vor allen anderen. So viel ist vorherzusagen: Einfach wird es Schulz den Regierungschefs auch in Zukunft nicht machen, in welchem Amt auch immer.

Günther Oettinger, vom Landeschef zum wichtigsten Energiepolitiker Europas

Günther Oettinger hat sich hineingefuchst in das komplexe Dossier, das ihm übertragen wurde, und hat es geschafft, vom CDU-Ministerpräsidenten mit zweifelhaften Englischkenntnissen zu Europas wichtigstem Energiepolitiker zu werden und zum Kämpfer für einen Binnenmarkt für Energie, auf dem etwa Gas als Ware gehandelt wird und nicht einmal ausgehandelte Lieferverträge den Preis bestimmen. Für eine Infrastruktur, die es ermöglicht, dass Gas auch von West nach Ost fließen kann. Die Rolle als Statthalter der eigenen Regierung in der EU-Kommission hingegen behagt ihm nicht, er hat sich rascher und deutlicher daraus befreit als Kollegen aus anderen Ländern. In die innenpolitische Debatte in Deutschland mischt Oettinger sich lebhaft ein, durch die Distanz von Brüssel nach Berlin befreit von Parteidisziplin und nicht immer zur Freude der Parteifreunde. Mit der CSU stritt Oettinger zuletzt öffentlich und grundsätzlich über deren europakritische Töne. So sucht er sich andere Alliierte und findet sie im Wirtschaftsflügel der Union und in Unternehmerverbänden.

Gerne würde er weitermachen in der EU-Kommission. Allein, ob er darf, entscheidet nicht er selbst: Die Bundesregierung benennt den deutschen EU-Kommissar, wenig ist in dieser Sache entschieden. Sollte SPD-Mann Martin Schulz Kommissionspräsident werden, wäre der deutsche Platz in dem 28-köpfigen Gremium ohnehin vergeben.

David McAllister, ein Deutschschotte, aber very British

Zurückhaltend. Understatement. Keine Ansprüche. David McAllister (CDU) wird am Dienstag als ganz normaler Abgeordneter sein Mandat in Brüssel annehmen. Er wolle sich erst einmal umschauen, den Parlamentsbetrieb kennenlernen, die Kollegen, die Usancen. Das Gegenteil von Hoppla-jetzt-komm-ich. In Wahrheit aber weiß McAllister längst, worauf es ankommt in Europas Parlament. Seit einem Jahr hat er sich akribisch auf seine neue Aufgabe vorbereitet. Französisch gebüffelt, Englisch ist für ihn kein Problem. Als Gast an den Gremiensitzungen der EVP teilgenommen, seiner neuen Fraktion. EU-Länder bereist. Die Parlamentsdrucksachen liest er seit Monaten. Die diversen Anreisemöglichkeiten aus seinem abgelegenen Heimatort Bad Bederkesa in die EU-Metropole sind ausgekundschaftet. Ein Büro ist reserviert, eine Wohnung ebenfalls. Es kann losgehen. Wenn es ihm dort gefällt, auf Dauer, was nicht sicher ist für einen, der viel Nähe braucht, und wenn es der Kanzlerin gefällt, sie ihn nicht zurückbeordert nach Deutschland: Dann könnte er, mehr über kurz als über lang, dem Elsässer Daul an der Spitze der konservativen Fraktion folgen. Und sich dann an eine wahre Sisyphusarbeit machen: Die britischen Tories, zu denen er gute Beziehungen pflegt, heimzuholen nach Europa.

Manfred Weber, ein Strippenzieher, der noch nicht groß aufgefallen ist

In Brüssel hat sich Manfred Weber als Nummer zwei der CSU eingerichtet. Dabei ist er eigentlich die Nummer eins. Der Bezirkschef seiner Partei in Niederbayern ist das Gegenbild zum europäischen Spitzenkandidaten der CSU, dem Schwaben Markus Ferber. Weber ist leiser, weniger konfrontativ, er poltert seltener und wenn, fällt es weniger auf. Allerdings ist er deshalb auch bisher noch nicht groß aufgefallen. Dabei ist er ein ausgezeichneter Strippenzieher, in Brüssel umfassend vernetzt und gilt als äußerst umgänglicher Kollege.

Es gab Zeiten, da wollte Weber Generalsekretär seiner Partei werden, legte es also auf eine Karriere in Deutschland und Bayern an. Doch das Verhältnis zu CSU-Chef Horst Seehofer war nie so gut, dass er ohne Weiteres hätte aufsteigen können. Brüssel ist dagegen eine Sphäre, die für den CSU-Chef weit weg ist. Mittlerweile hat sich Weber ganz auf die europäische Ebene verlegt. Ohne Groll. Die wachsende Gestaltungsmacht des EU-Parlaments hat Weber verinnerlicht. Dort wird er nach Meinung vieler Beobachter nach der Wahl wahrscheinlich den entscheidenden und mächtigsten Posten einnehmen können, den die bürgerlichen Parteien zu vergeben haben: den des Fraktionschefs der Europäischen Volkspartei (EVP).

Damit wäre er so etwas wie der europäische Volker Kauder. Vize-Fraktionschef ist er bereits seit 2009. Doch derer gibt es fast ein Dutzend. Als Fraktionschef würde er zu einem der wichtigsten Deutschen in Brüssel. Wird der SPD-Mann Martin Schulz Kommissionspräsident, fiele Weber wohl die Rolle des bürgerlichen Konterparts in der medialen Aufmerksamkeit zu. Wird Schulz nichts, dann könnte er neben dem Kommissar, den wahrscheinlich die CDU stellt, der zweite Mann in Europa werden.

Der 41-Jährige sitzt seit zehn Jahren im Europäischen Parlament. Es ärgert ihn, wenn in Deutschland die Arbeit der Abgeordneten gering geachtet oder gar untergeschätzt wird. „Europapolitik ist deutsche Innenpolitik“, das ist sein Credo. In der CSU fungiert er derzeit noch als Chef der Grundsatzkommission. Die soll für die programmatische Weiterentwicklung der Partei Impulse geben. Viel bewegen konnte Weber hier freilich nicht. Programmatische Akzente zu setzen, das versteht Horst Seehofer als seine ureigene Aufgabe. Demnächst gibt Weber diesen Posten ab. Damit bleibt ihm mehr Zeit, sich den – zusätzlichen – Aufgaben in Brüssel und Straßburg zu widmen.

Ska Keller, aufgeräumt im Kopf, schlagfertig in der Argumentation

Die Frau mit den kurzen Haaren und den braunen Augen fällt auf in Brüssel: Ska – eigentlich Franziska – Keller ist erst 32 Jahre alt und trotzdem schon eine der beiden Spitzenkandidaten der europäischen Grünen. Obwohl ihr die Mitbewerber aus den anderen Parteien Jahre an Erfahrung voraushaben, macht Keller im Europawahlkampf eine gute Figur.

Sie ist aufgeräumt im Kopf und schlagfertig in der Argumentation. Während die anderen, altgedienten Kandidaten, von Martin Schulz bis Jean-Claude Juncker, im ersten gemeinsamen Fernsehduell aller großen und kleinen Fraktionen sanft miteinander umgingen, suchte Keller die Front. Die Jungpolitikerin wollte sich nicht mit Konsens zufrieden geben, stattdessen ging es ihr darum, die Unterschiede in den Positionen herauszuarbeiten.

Was ihr dabei hilft, ist ihr nahezu perfektes Englisch. Rhetorisch einigermaßen aggressiv, setzt Keller sich im Wahlkampf mit linken Positionen in Szene. Sparkurs in der Schuldenkrise? Bloß nicht: „Der Sparkurs sollte so rasch wie möglich enden“, forderte sie im Fernsehduell. Und die Flüchtlingsströme aus Afrika und Nahost? Viel mehr müssten aufgenommen werden, sagt sie. Es sei ein Armutszeugnis, dass Europa die vor dem Elend fliehenden Syrer nicht mehr unterstützt.

Im Vorjahr kämpfte die Grüne vergeblich im EU-Parlament mit ihren Mitstreitern dafür, das Asylverfahren namens Dublin II zu reformieren. Und so gilt nach wie vor, dass Flüchtlinge nur in dem Land Asyl beantragen können, wo sie Europa betreten haben. Ska Keller bemängelt, dass die Mittelmeeranrainer mit dem Flüchtlingsansturm weitestgehend allein gelassen werden.

Ska Keller stammt aus dem brandenburgischen Guben. Groß geworden ist sie bei der Grünen Jugend, bereits mit Mitte 20 stieg sie zur Landeschefin der Brandenburger Grünen auf. 2009 schaffte sie mit ihrer bis dahin außerparlamentarischen Partei den Einzug in den Potsdamer Landtag. Noch im selben Jahr gelang Keller der Sprung ins EU-Parlament, wo sie handelspolitische Sprecherin der Grünen ist. Keller hat Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik studiert und beherrscht fünf Fremdsprachen. Sie führt die Wahlkampagne der europäischen Grünen gemeinsam mit dem französischen Europaabgeordneten José Bové.

Jan Philipp Albrecht, mit 31 Jahren der jüngste deutsche Europaabgeordnete

Jung, grün, sein Fahrzeug nicht nur im Wahlkampf: ein VW-Bus-Oldtimer, mit dem er durch Europa fährt, mit höchstens 90. Einer, der rasch aus der Menge der Abgeordneten im Europaparlament herausstach – Edward Snowden sei Dank. Jan Philipp Albrecht ist eine Karriere gelungen, die es nur in Brüssel gibt, in diesem Parlament der Fachleute.

31 Jahre alt ist Albrecht, der jüngste deutsche Abgeordnete des aktuellen Europaparlaments, und koordiniert als Berichterstatter schon die Position des Parlaments zur geplanten Datenschutzgrundverordnung, die nach den NSA-Enthüllungen auf einmal nicht mehr nur die Internet-Freaks interessierte. Ein „Bericht“ ist Auszeichnung und Ehre – und viel Arbeit.

Fast 4000 Änderungsanträge von Kollegen musste er einarbeiten, dennoch sollte die strenge Linie, die US-Internetkonzernen Rücksichtnahme auf europäische Datenschutzregeln vorschreibt, nicht verwässert werden. Es ist ein Text, bei dem es auf jedes Komma ankommt. Albrecht agierte pragmatisch und konnte kurz vor Ende der Wahlperiode Vollzug vermelden: Das Plenum nahm seinen Bericht an.

Nun sind die Innenminister am Zug, die im Juni beraten. Albrecht fühlt sich gestärkt von der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, der ein Recht auf Vergessenwerden konstatierte, so wie Albrecht es in seine Version der Datenschutzverordnung geschrieben hatte.