Schwarz-Rot wollte den Streit bei der Vorratsdatenspeicherung überwinden. Nun sorgt Europas höchstes Gericht für neuen Ärger

Berlin. Die Bombe schlummerte seit Monaten. Im Januar bestimmte Bundesjustizminister Heiko Maas die Schlagzeilen, nachdem er in einem Interview erklärt hatte, er wolle ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung noch nicht sofort auf den Weg bringen. In der Aufregung von Unionsseite über dieses Ausbremsen ging unter, dass der SPD-Politiker gegen Ende des Gesprächs mit dem „Spiegel“ sogar grundsätzlich Kritik an den Speicherplänen äußerte, auf die sich Union und SPD in den Koalitionsgesprächen zuvor jedoch verständigt hatten: „Ich bin sehr skeptisch bei der Vorstellung, dass eine Flut von Daten der Bürger ohne Anlass gespeichert wird und so vielen Stellen zugänglich ist“, sagte der Justizminister.

Nun hat Maas vollstreckt, was er damals bereits angedeutet hatte. Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gekippt hat, stellt der SPD-Minister das ganze Instrument infrage. Innenpolitiker – nicht nur aus der Union – sehen darin einen Verstoß gegen den Geist des Koalitionsvertrags. Und nachdem das nahezu zum Glaubenskrieg mutierte Thema fast abgeräumt schien, droht der schwarz-roten Koalition nun die Fortsetzung des schwarz-gelben Dauerstreits.

Einig sind sich derzeit nur die Datenschützer: In ganz Europa feiern Bürgerrechtsorganisationen, Vertreter der Grünen oder der FDP das Urteil. Der Spruch der Luxemburger Richter sei „eine herbe Niederlage für die Befürworter von anlasslosen Massendatenspeicherungen und eine Ohrfeige für die deutsche Bundesregierung“, wie Grünen-Vizefraktionschef Konstantin von Notz feststellt. Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und Speicher-Blockiererin sagte: „Die Vorratsdatenspeicherung gehört in die Geschichtsbücher.“ So weit war das alles noch zu erwarten.

Maas allerdings überraschte mit seinem Vorstoß: „Die Grundlage für die Vereinbarung im Koalitionsvertrag ist entfallen“, sagte er. Das ist ein Paukenschlag – selbst mit Blick auf den Vertrag. Es stimmt zwar, dass Union und SPD in dem Dokument deutlich auf Europa und den Ausgang des Rechtsstreits Bezug nehmen: „Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und die Nutzung von Telekommunikationsverbindungsdaten umsetzen“, heißt es da. Am Ende des Absatzes steht aber auch: „Auf EU-Ebene werden wir auf eine Verkürzung der Speicherfrist auf drei Monate hinwirken.“ Das klingt eben nicht danach, dass sich die Koalitionäre alle Türen offen halten wollten – sondern zeigt, dass ein Konsens über die Einführung des Instruments bestand und lediglich Details zu regeln sein schienen.

Davon will Maas jetzt nichts mehr wissen: „Deutschland ist nicht mehr zu einer Umsetzung der Richtlinie verpflichtet. Auch Zwangsgelder drohen nicht mehr. Es besteht jetzt kein Grund mehr, schnell einen Gesetzentwurf vorzulegen.“ Der Justizminister will das Urteil erst einmal sorgfältig auswerten, um dann mit der Union neu über das Thema Vorratsdatenspeicherung zu reden – und zwar „ergebnisoffen“.

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) darf sich nach Maas’ Vorstoß im Januar erneut übergangen fühlen. Er machte klar, dass er weiterhin Handlungsbedarf sieht und an den Vereinbarungen festhalten will: „Ich dränge auf eine rasche, kluge, verfassungsmäßige und mehrheitsfähige Neuregelung.“ Ein Wort mehr, und der Koalitionsfrieden wäre auch öffentlich bedroht.

Umso deutlicher sprechen alle anderen Innenexperten der Union. Der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU), sieht die Gefahr, dass die Vorratsdatenspeicherung wie schon in der schwarz-gelben Vorgängerregierung zu einem Dauerstreitthema werden könne. „Schon vor Monaten habe ich darauf hingewiesen, dass die große Gefahr besteht, dass es nach der Entscheidung des EuGH zu einer langen Hängepartie kommen könnte, die möglicherweise die ganze Wahlperiode andauert“, sagte Bosbach. Er verteidigte die Einigung im Koalitionsvertrag: „Die Entscheidung des EuGH hat an der Notwendigkeit der Mindestspeicherfrist nichts geändert.“

Tatsächlich hat Luxemburg die Vorratsdatenspeicherung auch nicht komplett verboten. Die Richter stellten lediglich fest, dass die seit Jahren umstrittene EU-Richtlinie gegen die EU-Grundrechtecharta verstößt. Der dort niedergelegte umfassende Speicheranspruch sei ein „Eingriff in die Grundrechte fast der gesamten europäischen Bevölkerung“. Die nun gekippte Richtlinie gelte nämlich für alle Personen, „bei denen keinerlei Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit schweren Straftaten stehen könnte“, heißt es im Urteil.

Zwar sei die Bekämpfung „schwerer Kriminalität“ – insbesondere der organisierten Kriminalität und des Terrorismus – von „größter Bedeutung für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit“, und ihre Wirksamkeit könne „in hohem Maß von der Nutzung moderner Ermittlungstechniken abhängen“, schreiben die Richter. Allerdings müsse eine neue Richtlinie klarstellen, dass die Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert werden, über „ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsrisiken“ sowie „vor jedem unberechtigten Zugang zu diesen Daten und jeder unberechtigten Nutzung ermöglichen“. Ähnlich hatte bereits das Bundesverfassungsgericht argumentiert, das ein entsprechendes deutsches Gesetz 2010 kippte. Seitdem ist Deutschland das einzige EU-Mitglied ohne Regelung zur Vorratsdatenspeicherung. Union und SPD wollten das ändern – aber das war vor dem Vorstoß von Heiko Maas.