Arbeitsministerin Nahles will Missbrauch beim Ruhestand mit 63 verhindern. Der Wirtschaft passt indes die gesamte Richtung der Reform nicht

Berlin. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) stand der Stolz darüber, dass sie es ist, die mit dem Rentenpaket das erste bedeutende Gesetz der Großen Koalition in den Bundestag einbringt, ins Gesicht geschrieben. Viele Frauen hätten sie gefragt, ob sie die angekündigten Verbesserungen für die älteren Mütter wirklich durchsetzen werde, berichtete die Sozialdemokratin. „Ich habe ihnen versichert: Das kriege ich hin!“ Und langjährig Beschäftigte, die auf die Rente mit 63 hofften, habe sie ebenfalls beruhigt, berichtete Nahles im Parlament: „Ich schaffe das!“

Nicht nur die Sozialdemokratin, sondern auch die Unionsredner betonten, mit der Rentenreform werde Lebensleistung anerkannt. Mit der Mütterrente sollen Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, künftig einen Zuschlag von bis zu 28 Euro monatlich erhalten. Wer 45 Beitragsjahre vorweisen kann, soll sich ohne Abschläge schon mit 63 Jahren zur Ruhe setzen dürfen. Verbesserungen sind zudem bei der Erwerbsminderungsrente vorgesehen. Die Kosten des Rentenpakets summierten sich bis 2030 auf 160 Milliarden Euro.

Die Koalition hat sich selbst unter einen enormen Zeitdruck gesetzt. Denn die neuen Leistungen sollen bereits ab Juli gelten. Nach dem Motto, Schnelligkeit geht vor Vollständigkeit, fand die erste Lesung des Gesetzentwurfs statt, obwohl die Koalitionäre schon jetzt Änderungen für notwendig halten. Nahles selbst zeigte sich bereit, die umstrittene Rente mit 63 nachzubessern. „Ich habe kein Interesse daran, dass diese Regelung ausgenutzt wird, um Frühverrentung zu fördern“, betonte die Ministerin. „Wenn es Veränderungen im parlamentarischen Verfahren gibt, bin ich sehr froh darüber.“

Teilen der Union fällt die Zustimmung zur Rente mit 63 schwer, zumal die Arbeitgeber eine Verschärfung des Fachkräftemangels befürchten. Wirtschaftspolitiker der Union und Vertreter der Jungen Gruppe drohen damit, der Reform nicht zuzustimmen. Um die Zahl möglicher Abweichler bis zur entscheidenden Abstimmung im Mai zu verringern, werden Korrekturen vorbereitet. Ein Knackpunkt ist die Bewertung von Zeiten der Arbeitslosigkeit als Beitragszeit. Obwohl die SPD immer wieder betont, es gehe ihr bei der Rente mit 63 darum, Menschen nach einem sehr langen Berufsleben Abschläge zu ersparen, will sie dabei auch unbegrenzt Zeiten der Kurzzeitarbeitslosigkeit berücksichtigen. Dies vergrößerte den Kreis der Anspruchsberechtigten erheblich.

Die Regelung ist zudem missbrauchsanfällig. Denn Unternehmen könnten ältere Mitarbeiter unter Hinweis auf die Rente mit 63 schon zwei Jahre früher mit einem goldenen Handschlag in den Vorruhestand schicken. Die letzten zwei Jahre vor Rentenbeginn ließen sich dann mit Arbeitslosengeld überbrücken. Und die Zeiten würden als Beitragszeiten bei der abschlagsfreien Rente berücksichtigt. In früheren Zeiten hatte es im großen Stil derartige Absprachen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zulasten der Sozialkassen gegeben.

Der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe in der Union, Peter Weiß, sagte, die Koalition lasse derzeit von Juristen prüfen, welche Möglichkeiten es gibt, eine Frühverrentungswelle zu verhindern. Die Union dringt auf eine Stichtagsregel. So könnte die Anerkennung von Arbeitslosenzeiten ab 1. Juli 2014 ausgeschlossen werden. Möglich sei auch ein „rollender Stichtag“, sodass sich der Stichtag für spätere Geburtenjahrgänge nach hinten verschiebt. Eine dritte Variante sei die Begrenzung der Anerkennung von Arbeitslosigkeit vor Renteneintritt auf maximal ein Jahr, so Rentenexperte Weiß.

Der Wirtschaft passt indes die gesamte Richtung der Rentenreform nicht. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) verweist darauf, dass die Beschäftigung der über 55-Jährigen in den vergangenen Jahren enorm zugenommen habe. Die Rente mit 63 sei angesichts fehlender Fachkräfte das völlig falsche Instrument. „Sie läuft den Anstrengungen in den Betrieben zuwider und sendet das Signal aus, die Älteren würden nicht mehr gebraucht – das Gegenteil ist jedoch der Fall“, so der DIHK. Wie sehr die Neuregelung die Betriebe treffen würde, zeigt auch eine Umfrage des Verbandes der Familienunternehmer. Danach gibt es in 54 Prozent der Mitgliedsunternehmen Mitarbeiter, die Anspruch auf die abschlagsfreie Rente mit 63 hätten. Von den betroffenen Betrieben sagt jeder Vierte, dass zwischen fünf und 30 Prozent der Belegschaft anspruchsberechtigt wären. Da sich in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge dem Rentenalter nähern, wurde auch gefragt, wie sich die Situation für die Betriebe in fünf Jahren darstellen würde. 2019 würden in zwei Dritteln der Familienunternehmen Beschäftigte abschlagsfrei mit 63 aufhören können, ergab die Umfrage. Und in fast jedem zehnten betroffenen Betrieb könnte gar ein Fünftel der Belegschaft und mehr abschlagsfrei in Rente gehen.

Um die Kritiker der Rente mit 63 zu besänftigen, will die Union das Rentenpaket um Maßnahmen ergänzen, mit denen das Arbeiten im Rentenalter attraktiver werden soll. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) plädiert dafür, dass Betriebe keine Sozialbeiträge für erwerbstätige Rentner zahlen sollen. Zudem sollte der Kündigungsschutz für diese Beschäftigtengruppe gelockert werden.