Ex-Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses war „aus gesundheitlichen Gründen“ zurückgetreten. Nun wird ein ungeheuerlicher Verdacht laut

Hannover. Der Verdacht erscheint so ungeheuerlich, dass ihn kaum jemand so recht wahrhaben will. Und so schossen Verschwörungstheorien von der ersten Minute seines Bekanntwerdens ins Kraut. Der SPD-Politiker Sebastian Edathy, der am Freitag überraschend – „aus Gesundheitsgründen“, wie er schrieb – zurückgetretene Bundestagsabgeordnete und Innenpolitikexperte seiner Fraktion soll mit Kinderpornos zu tun gehabt haben.

Edathy hat den Vorwurf des Besitzes von Kinderpornografie mit aller Deutlichkeit zurückgewiesen. „Die öffentliche Behauptung, ich befände mich im Besitz kinderpornografischer Schriften beziehungsweise hätte mir diese verschafft, ist unwahr“, erklärte Edathy am Dienstag auf seiner Facebook-Seite. „Ich gehe davon aus, dass die Unschuldsvermutung auch für mich gilt. – Ein strafbares Verhalten liegt nicht vor“, schreibt der 44-Jährige weiter. Und viele im politischen Berlin würden ihm das auch nur allzu gern glauben, so integer und korrekt wie Edathy wahrgenommen wurde – parteiübergreifend. Der Mann, der sich durch seine umsichtige Leitung des NSU-Untersuchungsausschusses Achtung und Respekt verdient hat, ein Pädophiler? Die Nachwuchshoffnung seiner Partei, der unerschrockene Aufklärer, der Verfassungsschützern, Bundeskriminalamt und der rechtsextremistischen Szene gleichermaßen die Stirn geboten hatte bei der Aufklärung all der amtlichen Versäumnisse rund um die Mordserie des nationalsozialistischen Untergrunds? Das mag niemand glauben.

Und so verging fast ein halber Tag, bevor am Dienstag entsprechende Recherchen des niedersächsischen Lokalblatts „Die Harke“ breit aufgegriffen wurden. Das Blatt hatte vorab im Netz von einer Hausdurchsuchung in Edathys Rehburger Wohnung und in seinem Büro in der Nienburger Georgstraße berichtet. Durch ein Zimmerfenster von außen geschossene Fotos zeigten aufgetürmte Einrichtungsgegenstände und einen Polizeibeamten.

Die Wohnungstür hatte aufgebrochen werden müssen, Edathy war nicht anwesend. Später hieß es, er sei im Ausland. Berichte, wonach auch das Bundestagsbüro durchsucht worden sei, wurden sowohl von der SPD-Fraktion als auch von der Bundestagsverwaltung als falsch zurückgewiesen.

Die Staatsanwaltschaft Hannover verweigerte zunächst jede Auskunft. Möglicherweise werde man sich aber am Mittwoch äußern. Der Bundestag war übrigens nicht über ein Ermittlungsverfahren gegen Edathy informiert.

Auch seine Partei ließ sich zunächst Zeit, Stellung zu beziehen. Auf drängendes Nachfragen erklärte sich zuerst die SPD-Fraktion. Parlamentsgeschäftsführerin Christine Lambrecht bestätigte am Mittag, dass gegen Edathy wegen des Verdachts auf Kinderpornografie ermittelt werde: „Wir sind alle sehr bestürzt.“ „Die gegen Sebastian Edathy geäußerten Vorwürfe wiegen schwer und müssen sorgfältig, schnell und umfassend aufgeklärt werden“, erklärte dann der Generalsekretär der niedersächsischen SPD, Detlef Tanke.

So bestürzt seine Parteifreunde reagierten, völlig unvorbereitet kann die Spitzen-Genossen der Verdacht nicht getroffen haben. Bereits seit November ist in der SPD-Fraktion klar, dass Edathy – als bis dahin aufsteigender Stern der SPD im Bundestag – seine Karriere in der folgenden Legislaturperiode nicht fortsetzen sollte. Entsprechend soll sich der SPD-Innenexperte Michael Hartmann vor Parteifreunden geäußert haben.

Wie es in Kreisen der Sicherheitsbehörden heißt, hat das Bundeskriminalamt (BKA) im Rahmen der Bekämpfung der Kinderpornografie strafrechtliche relevante Informationen vor einiger Zeit schon an die Staatsanwaltschaft Hannover übermittelt. Das BKA selbst wollte sich allerdings ebenso wenig dazu äußern wie die Staatsanwaltschaft.

Das Brisante an diesem Vorgang: Sollte ein Kinderporno-Verdacht gegen Edathy als Kopf des von großer internationaler Aufmerksamkeit begleiteten NSU-Aufklärungsausschusses schon im letzten Jahr ruchbar geworden sein, wäre es sicher im Interesse nicht nur seiner Partei gewesen, eine „Causa Edathy“ von der NSU-Aufklärung zu trennen. Hielten sich also Polizei und Staatsanwaltschaft möglicherweise mit der Aussicht auf ein freiwilliges Ausscheiden Edathys zunächst zurück? Wären die Verdachtsmomente vor Abschluss der NSU-Untersuchungsarbeit bekannt geworden, hätte dies sicher das gesamte Aufklärungsprojekt diskreditiert und die deutsche Politik weltweit in ein schräges Licht gerückt. Die Strafprozessordnung sieht jedenfalls die Verzögerung und sogar die Unterlassung von Strafverfolgung aus „gesamtstaatlichem Interesse“ ausdrücklich vor. Das könnte Edathys überraschend bekannt gewordenen Rückzug „aus Gesundheitsgründen“ in einem anderen Licht erscheinen lassen. Bislang war von Burn-out die Rede gewesen. Auch wird der persönliche Umgang mit ihm als nicht immer einfach geschildert.

Den Eindruck, dass hier einer offenbar mit sich zu kämpfen hat, nährte Edathy selbst in einem Artikel, den er am 28. Dezember in der „taz“ veröffentlicht hatte. Schon die Überschrift liest sich im Nachhinein wie ein politischer Nachruf: „Ich muss mich ändern!“.

„Ich selber müsste mich dringend ändern, sagen mein Hund, meine Bekannten und mein Steuerberater", schrieb Edathy damals. „Eigentlich will ich mich doch ändern. Eigentlich müsste ich mich ändern. Aber eigentlich will ich nicht.“ Was seinerzeit wie gedankliche Schattenspiele eines gestressten Parlamentariers wirken mochte, könnte aus heutiger Sicht auf die Vorahnung eines bösen Endes hin gedeutet werden.

Der Fall erinnert an den des früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss. Der Netzpolitiker wurde im Mai 2010 vom Landgericht Karlsruhe wegen Besitzes, Weitergabe und Erlangen von kinderpornografischem Material in insgesamt 102 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Tauss hatte zunächst alle Vorwürfe bestritten und sich darauf berufen, das Material nur wegen seiner internetpolitischen Arbeit gesichtet zu haben.

Allerdings besteht zwischen Tauss und Edathy ein gravierender Unterschied: Gegen den Niedersachsen gibt es bislang nur einen Verdacht. Dagegen ist das Urteil gegen Tauss rechtskräftig.