Der Premier gibt sich zahm, die Kanzlerin beeindruckt das nicht. Einen baldigen EU-Beitritt der Türkei lehnt sie ab

Berlin. „Kann man Frau Özoguz bitte einen Stuhl geben?“, fragt Angela Merkel, kaum hat sie sich selbst im Konferenzsaal des Kanzleramts hingesetzt. Ihre mittlerweile prominente Staatsministerin für Integration will die Kanzlerin gut platziert wissen. Die SPD-Politikerin ist schließlich ein Trumpf, den sie beim Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ausspielen kann. Eine türkischstämmige Politikerin im Umkreis der Regierungschefin – da muss Erdogan sich milde stimmen lassen.

Und er tut es. Das Zusammentreffen der Regierungschefs fällt deutlich harmonischer aus als das letzte Ende Oktober 2012. Zumindest von Erdogans Seite. Damals reagierte er barsch auf Journalistenfragen zu den Kurden in der Türkei, aber auch schroff gegenüber der Kanzlerin, weil die sich doch noch immer wehrte, die doppelte Staatsbürgerschaft für die Deutschtürken zu akzeptieren. Vom EU-Beitritt der Türkei, den Merkel nicht will, ganz zu schweigen. Mittlerweile ist ein Teil der Differenzen weg.

Erdogan lobt nicht nur Aydan Özoguz als „Inspiration für die junge Generation“, sondern auch die „Aufhebung des Optionsmodells“. Dass sich junge Deutschtürken bald nicht mehr für einen der beiden Pässe entscheiden müssen, freue ihn. Überhaupt freut er sich viel in der Pressekonferenz mit der Kanzlerin: über elf Bundestagsabgeordnete türkischer Abstammung, über eine Fußballnationalelf, in der türkischstämmige Spieler reichlich vertreten seien, darüber, dass ab sofort die Türken in Deutschland an der Wahl des türkischen Staatspräsidenten teilnehmen können, ohne dafür in die Türkei reisen zu müssen. Darüber wohl vor allem. Die bevorstehenden Wahlen in der Türkei sind der eigentliche Grund für Erdogans Besuch. Er ist auf Wahlkampftour. Das Staatsoberhaupt wird im Herbst gewählt, im März finden Kommunalwahlen statt. Erdogan verweist auf die Erfolge seiner AKP, was die Kanzlerin etwas zu irritieren scheint.

In Deutschland leben immerhin 1,5 Millionen wahlberechtigte (Deutsch)-Türken. Es wird angenommen, dass ein größerer Teil von ihnen Erdogans Partei AKP nähersteht als die durchschnittliche Bevölkerung in der Türkei. Entsprechend euphorisch wurde der Titel einer Veranstaltung mit 3000 Besuchern im Berliner Tempodrom am Abend gewählt. Korrekt übersetzt lautet er: „Berlin trifft den großen Führer“. Erdogan weist Vorwürfe der Korruption zurück und betont, das Land genieße weltweit hohes Ansehen

Bei einem ähnlichen Auftritt hatte Erdogan 2008 für große Empörung gesorgt. In der Köln-Arena warnte er damals seine Landsleute in Deutschland vor Assimilierung. Das war als Aufforderung verstanden worden, sich nicht zu integrieren. Schon 2012 versuchte er dies in ein anderes Licht zu tauchen, als er forderte, die Türken in Deutschland müssten Kant und Hegel im Original verstehen können. Nun gab er sich erneut zahm. „Die Türken können besser leben, wenn sie sich integrieren“, sagte er. Merkel ergänzte, dass man über die Differenzen von 2008 hinweg sei.

Erdogans Charmeoffensive verfing bei Merkel aber nur bedingt. Schuld ist das Thema EU-Beitritt. Das Ganze sei ein „ergebnisoffener Prozess“, betonte sie. „Auch hat sich nichts an meiner Haltung geändert, wonach ich eine Vollmitgliedschaft skeptisch sehe.“ Erdogan nahm es zur Kenntnis. Sein Land wünsche sich die Unterstützung durch die Bundeskanzlerin. Am Morgen hatte er vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik klarere Worte gefunden. Er sagte, dass die Europäische Union auf sein Land angewiesen sei. „Nicht nur die Türkei braucht die EU, sondern auch die EU braucht die Türkei.“ Er verwies auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre, die Zahl von 77 Millionen Einwohnern. Es werde unmöglich sein, das 21. Jahrhundert ohne die Türkei zu gestalten.

Ausgerechnet einen Tag vor seinem Besuch hatte die CDU ihr Europa-Wahlprogramm vorgelegt. Darin ist der Türkei ein eigener Abschnitt gewidmet. Der Ton ist defensiv, nüchtern, pflichtschuldig. Kein Wort mehr davon, dass die Türkei ein wirtschaftlich aufstrebender Partner ist. Diese Euphorie ist angesichts der kriselnden Wirtschaft und der Abwertung der Währung verflogen. In dem CDU-Papier heißt es: „Wir sehen die strategische und wirtschaftliche Bedeutung der Türkei für Europa.“ Man wolle eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen EU und Türkei sowie eine strategische Zusammenarbeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. „Eine Vollmitgliedschaft der Türkei lehnen wir jedoch ab.“

Merkel und Erdogan kennen einander gut. Bei internationalen Konferenzen sitzen die beiden wegen des als Grundlage für die Sitzordnung dienenden englischen Alphabets meist nebeneinander. Ein herzliches Verhältnis ist daraus nicht erwachsen. Diplomatische Professionalität bestimmt die Beziehungen. Was nicht heißt, das Merkel Widerspruch unterlässt. Als „unangemessen“ hatte sie die Reaktion der Staatsgewalt gegen die Demonstranten vom Gezi-Park im Sommer 2013 kritisiert. „Das entspricht nicht unseren Vorstellungen von Freiheit der Demonstration“, sagte sie damals.

Daran erinnerte sie auch jetzt noch einmal, ohne den Gast vor den Kopf zu stoßen. Dabei hatte es zuletzt viel Kritik an der Gängelung der Justiz in der Türkei gegeben. Merkel sagte: „Diese Diskussionen in der Türkei sind türkische Diskussionen.“ Jedes Land müsse seinen Demokratisierungsweg aus eigener Kraft gehen. Soll wohl auch heißen: der Weg ist noch lang.

Großes Verständnis hat Merkel für Erdogan nur beim Thema Syrien. Die Türkei ist Zufluchtsort für 700.000 Syrer. Der Gedanke, wie Deutschland aussähe, wenn es von 700.000 Flüchtlingen überrannt würde, lässt sie schaudern. Die Position Merkels und Erdogans zu Syrien sind jedoch unterschiedlich. Erdogan wollte lieber einen kurzen internationalen Konflikt als einen langjährigen Bürgerkrieg im Nachbarland in Kauf nehmen. „Wie kann man da einfach zuschauen wie bei einem Fußballspiel?“, sagte er in Berlin. Die Bundesregierung hat sich dagegen stets gegen jede internationale Eskalation gewandt.