Mehr als 600 nicht aufgeklärte Taten bundesweit werden von der Polizei neu aufgerollt. Allein in Hamburg sind es 29 bislang rätselhafte Verbrechen

Hamburg. Der Täter stand vor dem Fischgeschäft in Hamburg-Ottensen, einen Revolver in der Hand. Dann fiel ein Schuss. Nurhan C. hatte Glück, die 34 Jahre alte Verkäuferin wurde nur leicht verletzt. Und der Schütze floh. Der Mordversuch ereignete sich im Januar 2005. Bis heute weiß die Hamburger Polizei nicht, wer der Täter ist. Damals vermuteten die Ermittler einen Familienstreit, weil Nurhan C. Jahre zuvor ihren Ehemann angegriffen hatte und im Gefängnis landete. Doch die Fahndung nach den Schüssen in Ottensen verlief im Sand. Jetzt prüft die Polizei, ob Neonazis die Tat verübten

Die Schüsse in Ottensen sind einer der 29 Fälle, die nun von der Hamburger Polizei neu aufgerollt werden. Das geht aus einer Anfrage der Linksfraktion in der Bürgerschaft hervor, die dem Abendblatt vorliegt. Nach der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ordnete das Bundesinnenministerium an: Alle Kriminalämter in Deutschland sollen ungeklärte Tötungsdelikte noch einmal prüfen, um die Frage zu beantworten: Hatten die Taten doch einen rechtsextremistischen Hintergrund, der auch bei der NSU-Mordserie über Jahre nicht erkannt worden war?

Bundesweit ermitteln Kriminalbeamte nun in insgesamt 628 Fällen. Es sind 301 vollendete Tötungsdelikte sowie 327 versuchte Tötungen. Und überall fehlt vom Täter noch jede Spur. Die Fahnder im „Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus“ richteten eine eigene „Arbeitsgruppe Fallanalyse“ in Berlin ein. Die mehr als 600 Straftaten filterten sie aus einer noch viel größeren Zahl von Fällen heraus. Die AG Fallanalyse hatte zunächst 3300 unaufgeklärte Verbrechen auf „abstrakt denkbare Anhaltspunkte“ für ein mögliches rechtes Tatmotiv untersucht. Auffällig ist: Während Baden-Württemberg 216 Taten überprüfen will und Bayern 40, hat Sachsen nur zwei, Thüringen ebenfalls zwei und Mecklenburg-Vorpommern fünf Fälle gemeldet. Dabei ist die Zahl der rechtsextremen Straftaten in Ostdeutschland hoch.

Noch heute sind in Hamburg nach Behördenangaben insgesamt 200 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte aus Jahre 1990 bis 2011 unaufgeklärt. In jedem der nun neu aufgenommenen 29 Delikte konnte die Herkunft, Hautfarbe, die Religion oder die politische Einstellung des Opfers oder der Opfer als Tatmotiv nicht ausgeschlossen werden. Zu den insgesamt 35 Opfern in Hamburg gehörten 22 Menschen mit ausländischer Herkunft, zwei Homosexuelle, sechs Obdachlose und zwei linke Aktivisten. In einem Fall soll der Täter ausländerfeindliche Parolen gerufen haben. Doch die Ermittler konnten das bisher nicht beweisen.

Am 27. Juni 2001 wurde der Lebensmittelhändler Süleyman Tasköprü in Hamburg-Bahrenfeld in seinem Geschäft mit Schüssen in den Kopf ermordet. Die Täter sollen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewesen sein – mit Beate Zschäpe die mutmaßlichen Rechtsterroristen des NSU. Gegen Zschäpe und weitere Angeklagte aus der Neonazi-Szene läuft derzeit der Prozess in München. Insgesamt werden dem Trio zehn Morde zur Last gelegt.

Lange tappten die deutschen Sicherheitsbehörden im Trüben, folgten falschen Fährten, machten falsche Anschuldigungen. Pannen und Ermittlungsfehler kamen noch dazu. Und Politiker, Aktivisten und Beamte stritten über die Zahl der Opfer rechtsextremer Gewalt. Nach Recherchen der Wochenzeitung „Die Zeit“ und des Berliner „Tagesspiegels“ starben zwischen 1990 und 2012 in Deutschland mindestens 152 Personen durch rechtsextremistisch motivierte Täter. Die Behörden aber sprechen – inklusive der zehn NSU-Opfer – nur von 63.

Die Diskrepanz versteht nur, wer genauer auf die Geschichte der Statistik blickt. Und die wurde von den Sicherheitsbehörden viele Jahre nur mangelhaft ausgewertet. So wurden bis 2001 nur extremistische Straftaten erfasst, die sich gegen den Staat richteten. Gewalt gegen Migranten oder Obdachlose fiel durch das Raster. Seit dreizehn Jahren sprechen Polizei und Verfassungsschutz von „rechts motivierter Gewalt“. Hamburgs Innenexpertin der Linkspartei, Christiane Schneider, begrüßt die bundesweiten Ermittlungen nach den neu gefassten Kriterien. „Lange wurden Rassismus und Neonazismus als Tatmotiv bei Gewalt gegen Andersaussehende, Anderslebende oder Andersdenkende völlig unterschätzt“, sagt sie.

Und dennoch erfasse die Ermittlung der 29 unaufgeklärten Fälle allein in Hamburg nicht die Morde, in denen der Täter bereits ermittelt werden konnte. Auch in diesen Fällen könnte – so Schneider – das politische Motiv eines Rechtsextremisten ignoriert worden sein. Auch solche Opfer tauchen bis heute nicht in der Statistik auf. So wie einst der Mord an Süleyman Tasköprü.