Start der Abendblatt-Aktion: Der Hamburger Parteienforscher Prof. Elmar Wiesendahl über ideelle und finanzielle Anreize sowie die Gründe für sinkende Wahlbeteiligung und schwindendes Interesse an Politik.

Hamburg. Die Parteien sind in einer Krise: Ihre Akzeptanz und ihr Ansehen in der Bevölkerung sinken, die Mitgliederkurven weisen zumeist nach unten. Aber gibt es eine wirkliche Alternative zum Parteiensystem, oder muss es nicht vielmehr darum gehen, Parteien wieder attraktiver zu machen?

Lars Haider: Politisch engagieren, Partei ergreifen!

„Partei ergreifen“ lautet das Motto einer Initiative, die Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider zu Beginn des Jahres angestoßen hat. In lockerer Folge beleuchten wir die unterschiedlichen Aspekte der repräsentativen Demokratie und ihrer Herausforderung durch direkte Formen der Bürgerbeteiligung. Zum Auftakt hat das Abendblatt den Hamburger Parteienforscher Prof. Elmar Wiesendahl, der früher an der Universität der Bundeswehr lehrte, zum Zustand der Parteien, den Ursachen des Bedeutungsverlusts und seinen Rezepten für die Zukunft befragt.

Hamburger Abendblatt:

Die Mitgliederzahlen der Parteien und die Wahlbeteiligungen sinken, Entscheidungen werden immer häufiger direkt vom Volk getroffen – sind unsere Parteien, ist die klassische Parteiendemokratie noch zu retten?

Prof. Elmar Wiesendahl: Das eine ist das breite Mitgliederfundament, auf das sie sich noch stützen. Das andere ist das, was aus den Parteien hervorgeht und von den Wählern angenommen werden muss. Wenn es an die Umsetzung geht, die Parteien also in Regierungen eintreten, müssen sich die Wähler und die Mitglieder wiedererkennen können. Da gibt es Spannungen, sodass man durchaus von einem Prozess des schleichenden Niedergangs der Parteiendemokratie sprechen kann.

Wie lang wird das Fundament der Parteien noch breit genug sein?

Wiesendahl: Es gibt grob drei Gruppen: 50 Prozent der Parteimitglieder sind inaktiv, quasi Karteileichen. Dann gibt es etwa 35 Prozent Gelegenheitsaktive, die man mobilisieren kann. Und es gibt einen kleinen Kern von 15 Prozent der Daueraktiven. Ohne die gäbe es gar kein Parteileben, und dieser Kern bleibt aktiv, unabhängig von sinkenden Mitgliederzahlen.

Wie weit dürfen Parteien denn noch schrumpfen, damit der 15-Prozent-Kern groß genug ist, um das Parteileben aufrechtzuerhalten?

Wiesendahl: In Deutschland sind ungefähr 200.000 Mandate zu vergeben bei etwa 1,2 Millionen Parteimitgliedern. Wenn man konstatiert, dass längst nicht jedes Parteimitglied ein Mandat anstrebt, sondern viele einfach nur in Gesellschaft ein Bier trinken wollen, kann man abschätzen, welche kritische Masse es braucht, um das Parteiensystem aufrechtzuerhalten.

Warum verlieren vor allem SPD, Union und FDP überhaupt so dramatisch an Mitgliedern?

Wiesendahl: Eine oberflächliche Erklärung: Wir hatten Ende der 60er- bis Mitte der 70er-Jahre eine außergewöhnliche Politisierungswelle. Junge Leute strömten zu Hunderttausenden in die Parteien, speziell in die SPD und später zur Koalitionspartei FDP. Und als Reaktion darauf verzeichnete auch das bürgerliche Lager, die Union, enormen Zulauf. So gab es innerhalb weniger Jahre eine Verdopplung der Mitgliederzahlen. Eine historische Ausnahmesituation. Nun gab es diesen Berg an Mitgliedern, die immer älter wurden, ohne dass Nachwuchs nachkam. Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder liegt daher bei 59 Jahren. Die unter 35-Jährigen machen nur acht Prozent aus. Kurzum: Die Parteien sind überaltert, die Mitglieder laufen ihnen nicht weg, sondern sie sterben weg. Wir haben eine Nachwuchskrise.

Aber es gibt Ausnahmen. In Hamburg hat die SPD seit dem Wahlerfolg 2011 Mitglieder hinzugewonnen, ebenso wie die CDU nach den Wahlerfolgen unter Ole von Beust – die hat sie nach der Wahlniederlage 2011 wieder verloren. Sind nur Gewinner attraktiv?

Wiesendahl: Man muss sich die Mitglieder genauer anschauen. Es gibt den klassischen Karrieristen. Der geht in die Partei, um ein Amt zu erwerben, eventuell gar aus wirtschaftlichen Interessen. Er geht in die Partei, die auf der Siegerstraße steht. Aber es gibt auch den Gesinnungstyp, den Weltverbesserer – er geht auch in die Verliererpartei.

Gegenbeispiel für den Niedergang sind die Grünen, die ohne Regierungsbeteiligung ein Allzeithoch verzeichnen – im Bund und in Hamburg.

Wiesendahl: Ja, der Trend ist positiv. Aber man muss sich die absoluten Zahlen anschauen. Die SPD hatte mal mehr als eine Million Mitglieder und jetzt immer noch knapp 500.000, ebenso die CDU. Die Grünen sind jetzt über 60.000.

Liegt der Zulauf daran, dass die Grünen ihre Mitglieder immer aktiver beteiligt haben als andere Parteien?

Wiesendahl: Ja. Das offene Modell der Grünen, bei denen jedes Mitglied zu Parteitagen kommen und auch mitentscheiden kann, ist ein Anreiz. Die Grünen profitieren aber noch von einem anderen Phänomen, ich nenne es „Aktivbürger“: Die sind hochgebildet, ökonomisch saturiert und in einem mittleren Alter, in dem die Familiengründung abgeschlossen ist. Diese Stadtbürger haben eine Affinität zu den Grünen, zu deren offenen Partizipations- und Debattenkulturen.

Haben die großen Parteien da Defizite?

Wiesendahl: Diese hermetische Abgeschlossenheit – man ist drin oder draußen – muss aufgebrochen werden. Die Parteien müssen sich stärker öffnen und Nicht-Mitglieder mitwirken und auch Karriere machen lassen. Durchlüftung ist das A und O.

Aber wie bekommt man das hin?

Wiesendahl: Die Parteien sind an dem Punkt ja sensibel und lenken schon lange gegen. Es gibt Schnuppermitgliedschaften für einen geringen Obolus, und die SPD hat Unterstützer-Mitgliedschaften für Arbeitsgemeinschaften und Themenforen eingeführt. Allerdings ist der Erfolg bislang gering. Viele Menschen scheuen offenbar auch den Mitgliedsbeitrag. Ich habe schon an die Parteien appelliert, die Beiträge ganz zu streichen.

Und die Reaktion?

Wiesendahl: Ein Aufschrei der Schatzmeister. Aber ich sage: Das fehlende Einkommen darf nicht das staatspolitische Engagement behindern.

Aber dann müsste man die staatlichen Zuschüsse erhöhen.

Wiesendahl: Warum nicht? Parteien sind ja keine Kaninchenzüchtervereine, sondern grundlegend für die politische Willensbildung. Eine hohe Mitgliederzahl ist also in staatlichem Interesse. Außerdem gilt es, eine Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

Inwiefern?

Wiesendahl: Wer geht denn in die Parteien? Nehmen Sie die SPD: Das war mal eine Industriearbeiter-Partei, bevor sie nach dem Zweiten Weltkrieg verbürgerlichte. Heute gehören die Mitglieder aller Parteien den besseren Kreisen an, es sind Akademiker-Parteien. Menschen mit abgebrochenem Schulabschluss finden Sie dort nicht. Diejenigen, die nicht artikulationsfähig sind, die nicht mehr zu Wahlen gehen, die werden immer mehr abgekoppelt. Man sieht es in Hamburg zum Beispiel an der Wahlbeteiligung in Billstedt oder Wilhelmsburg. SPD und CDU nehmen zwar noch eine gewisse Sprachrohrfunktion für diese Menschen wahr, aber in Wahrheit ist die Gesellschaft demokratisch halbiert, und diese Kluft wird immer tiefer.

Warum werden diese Menschen nicht mehr erreicht?

Wiesendahl: Menschen aus den Unterschichten füllen ihre Freizeit zum großen Teil mit massenkompatiblem Fernsehen und Online-Aktivitäten, auf jeden Fall nicht mit Politik. Sie sind auch der Meinung, nichts beeinflussen zu können und dass „die da oben“ ohnehin tun, was sie wollen. Hier tut sich eine gesellschaftliche Spaltung auf, die weit über das Problem Parteimitgliedschaft hinausgeht. Diese wachsende Gruppe ist zu einem erheblichen Teil Hartz-IV-Empfänger, arbeitslos, lebt in schlechten Wohnverhältnissen mit Kindern ohne Bildungsperspektiven.

Und inwiefern liegen die Menschen mit der Einschätzung richtig, nichts beeinflussen zu können?

Wiesendahl: Man sollte nicht die Vergangenheit verklären. Auch Konrad Adenauer und Kurt Schumacher waren schon autoritäre Köpfe, da wurde nichts basisdemokratisch entschieden. Aber wir haben zusätzlich eine Entwicklung hin zu Berufspolitikerparteien. Eine bestimmte, dauerhaft Politik machende Gruppe bestimmt über die Verwendung der Parteiressourcen, die inhaltliche Ausrichtung und das Gesicht der Partei. Sie sind im Staatsapparat verankert und brauchen die Mitglieder eigentlich nur noch für den Wahlkampf. Hinzu kommt, dass diese kleinen Gruppen von Partei zu Partei kaum unterscheidbar sind. Das schreckt ab, es gibt kaum einen Anreiz, aus ideologischen Gründen eine politische Heimat aufzusuchen. Die gibt es nicht mehr.

Jetzt läuten Sie der deutschen Parteienlandschaft das Totenglöckchen.

Wiesendahl: Nein, ich referiere nur den Mainstream der Parteienforschung. Es gibt ja auch gute Beispiele, wie man es besser machen kann. Nehmen Sie den Mitgliederentscheid der SPD zum Koalitionsvertrag: Trotz 50 Prozent inaktiver Mitglieder haben sich 78 Prozent beteiligt – das ist eine Sensation und der Nachweis: Wenn ich den Mitgliedern politische Entscheidungen in die Hand gebe, kann ich sie mobilisieren und revitalisieren. Aber das darf natürlich nicht nur einmal geschehen. Und es muss auch die Möglichkeit eines Mitgliederbegehrens geben, also die Befragung von unten zu einem Thema.

In Hamburg werden wichtige Fragen per Volksentscheid entschieden – wie die Schulreform oder der Rückkauf der Energienetze. Ist die direkte Demokratie eine Konkurrenz zur repräsentativen?

Wiesendahl: Seit Jahren wünschen etwa 75 Prozent der Bevölkerung eine unmittelbare Beteiligung an der Politik. Den Vertretern des repräsentativen, parlamentarischen Systems, also den Abgeordneten, blieb gar nichts anderes übrig, als dem Wunsch Rechnung zu tragen. Die direkte Demokratie ist eine Ergänzung und gibt dem Volk die Möglichkeit, sich bei wichtigen Fragen selbst zu artikulieren.

Steht hinter dem Willen, etwas selbst zu entscheiden, auch eine Kritik an den Parteien – Motto: Ihr bekommt das nicht hin, also machen wir das jetzt selbst?

Wiesendahl: Ja. Niemand geht in eine Gruppierung, die einen extrem schlechten Leumund hat. Und die Parteien stehen bei den Rankings öffentlicher Institutionen immer ganz unten. Nur rund 15 Prozent der Bevölkerung vertrauen den Parteien. Das Gleiche gilt für Politiker, verbunden mit einem Reputationsverlust. In diesem Klima ist der Wunsch, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, umso ausgeprägter. Die Parteien geben dem Wunsch in der Hoffnung nach, dadurch ihre eigene Reputation aufzubessern.

Beobachten Sie eine verstärkte Neigung der Menschen, sich nur punktuell zu engagieren und den Blick aufs Ganze aus den Augen zu verlieren?

Wiesendahl: Für eine aktive Mitgliedschaft in Parteien muss man etwas investieren, Zeit zum Beispiel. Man muss sich thematisch vorbereiten und diskutieren. Dagegen ist die Teilnahme an einer Demonstration oder einer Volksabstimmung beinahe so etwas wie Wohlfühl-Partizipation. Das eröffnet Spielräume für die Bevölkerung, sich einmal zu engagieren und sich dann wieder ins Private zurückzuziehen.

Hat das Engagement bei Volksentscheiden auch etwas mit Egoismus zu tun, also die Durchsetzung eigener Interessen?

Wiesendahl: Selbstbezogene Motive können eine Rolle spielen. Aber auch bei Wahlen denken viele ökonomisch: Welches Programm befriedigt meine Interessen am besten? Aber die Parteien sind viel stärker unter Druck, einzubinden und Kompromisse zu schmieden – innerparteilich und in Regierungsbündnissen. Deswegen ist der Wert der Parteien so hoch zu veranschlagen. Sie sind Vertreter des Gemeinwohls. Anders als Initiativen.

Wie stehen die Parteien in zehn, 20 Jahren da? Wie wird sich die Parteienlandschaft entwickeln – auch in Hamburg?

Wiesendahl: Es wird beim Einfluss der Parteien bleiben. Die Parteien bleiben die Träger der repräsentativen Demokratie. Sie machen Programme und stellen Kandidaten auf. Aber die Parteien werden sich massiv öffnen. Die hermetische Einstellung, die nur eingeschriebene und zahlende Parteimitglieder zulässt, wird in den Hintergrund treten. Die Parteien müssen in der Gesellschaft wurzeln, sonst überleben sie nicht. Die Frage, ob jemand, Mitglied, Unterstützer, Sympathisant oder Vertreter irgendeiner Initiative ist, hat keine Bedeutung mehr. Und es wird künftig offene Vorwahlen für die Kandidatenaufstellung geben, wie schon jetzt in Frankreich etwa. Meiner Ansicht nach wird das zuerst auf Bundesebene passieren und danach in den Ländern und Stadtstaaten.

Und wie sieht es für die Parteien aus?

Wiesendahl: Die SPD übernimmt in diesem Prozess eine Vorreiterfunktion: Mit dem Mitgliederentscheid über die Große Koalition hat sie aufgegriffen, was dringlicher Wunsch der Bevölkerung ist: mehr Beteiligung, mehr direkte Demokratie. In der Union gibt es starke Reserven dagegen, gerade auch in der Person Angela Merkels. Aber in dem Moment, wo über Fragen der direkten Demokratie Wahlen entschieden werden, wird die CDU sehr schnell einen Anpassungsprozess vollziehen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Der Zug in Richtung mehr direkte Demokratie ist nicht aufzuhalten.