15 Prozent der Arbeitnehmer verdienen weniger als 8,50 Euro in der Stunde – das sind rund 5,2 Millionen Beschäftigte

Berlin. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns könnte viel weniger Menschen betreffen als bislang gedacht. Im Extremfall könnte sich die Zahl der Anspruchsberechtigten bis zum Jahr 2015 sogar halbieren. Dies geht aus einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hervor. CDU/CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag auf einen allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde von 2017 an verständigt. Bis dahin gelten Tarifverträge mit niedrigeren Löhnen weiter. Die Details der Regelung sollen in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern erarbeitet werden.

In der Union gibt es Forderungen, Rentner, Studenten, Ehrenamtliche, Saisonarbeiter, Praktikanten und Jüngere vom Mindestlohn auszunehmen. Ausnahmen für jüngere Beschäftigte und Langzeitarbeitslose hatten auch die Arbeitgeber gefordert. Im Jahr 2012 verdienten laut DIW etwa 15 Prozent aller Arbeitnehmer weniger als 8,50 Euro die Stunde – rund 5,2 Millionen Beschäftigte. Dies waren schon 500.000 Arbeitnehmer weniger als noch im Jahr zuvor. Der Grund: Die Zahl der Beschäftigten mit einfachen Jobs sei gesunken. Außerdem konnten sich Arbeitnehmer über höhere Löhne freuen, die sie über die Grenze von 8,50 Euro hievten.

Und dieser Trend dürfte sich laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut dank der guten Wirtschaftsentwicklung fortsetzen: Bis zum Jahr 2015 werden demzufolge allein wegen Lohnsteigerungen 700.000 Arbeitnehmer über die Grenze von 8,50 Euro rutschen. „Mehr als 700.000 Arbeitnehmer verdienen aktuell zwischen acht und 8,50 Euro die Stunde. Setzt man Lohnsteigerungen von 2,3 Prozent wie zuletzt voraus, werden sie 2015 mehr als 8,50 Euro erhalten“, sagt der Autor der Studie, DIW-Forscher Karl Brenke. Sollten darüber hinaus noch diskutierte Ausnahmeregelungen für Rentner, Schüler und Studenten in Kraft treten, würde die Zahl der Anspruchsberechtigten um eine weitere Million sinken. Unklar ist auch, ob und wie Arbeitnehmer berücksichtigt werden, die einen sehr niedrigen Pauschallohn oder Stücklohn pro Tätigkeit erhalten. Darunter fallen etwa Taxifahrer oder Zeitungsausträger. Sollten auch diese Arbeitnehmer ausgeklammert werden, „schrumpft der Kreis der potenziellen Mindestlohnbezieher um weitere 600.000“, schreibt Brenke in seiner Analyse.

Über Lohnsteigerungen und Ausnahmen würden damit insgesamt 2,3 Millionen Arbeitnehmer der heute 5,2 Millionen Anspruchsberechtigten nicht mehr unter den Mindestlohn fallen. DIW-Forscher Brenke warnt vor zu starken Ausnahmen: „Das könnte zu unerwünschten Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt führen.“ So können etwa Rentner und Studenten gezielt für niedrig entlohnte Jobs eingesetzt werden, um den Mindestlohn zu umgehen. „Wenn bestimmte, genau definierte Tätigkeiten aus den Mindestlohnregelungen ausgeklammert würden, wäre indes die Gefahr von Verdrängungseffekten gering“, sagt Brenke. Außerdem müsse der Gesetzgeber strikt die Einhaltung neuer Regulierungen kontrollieren. „Schon heute leisten etwa eine Million Menschen, die unter 8,50 Euro verdienen, Überstunden. Bei einem Mindestlohn dürften es eher mehr werden“, sagt Brenke.

Grüne werfen der Union vor, Mindestlohn unterlaufen zu wollen

Auch das gewerkschaftseigene WSI warnt die Bundesregierung davor, Ausnahmen vom Mindestlohn zuzulassen. Zwei Millionen der Niedriglohnbeschäftigten erhielten dann keinen Mindestlohn. Zudem könnte es zu problematischen Verdrängungseffekten am Arbeitsmarkt kommen, heißt es in einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in Düsseldorf. Das WSI beziffert die Zahl der Beschäftigten in Deutschland mit einem Lohn unterhalb von 8,50 Euro die Stunde auf 5,25 Millionen. Gälte der Mindestlohn nicht für Minijobber, Rentner, Schüler, Studenten und hinzuverdienende Arbeitslose, gingen zwei Millionen oder 37 Prozent der Geringverdiener leer aus, rechnen die WSI-Experten vor. Ohne Ausnahmen für geringfügig Beschäftigte wäre es immer noch fast ein Viertel der Niedriglöhner.

Sollten sich die aktuellen Forderungen nach Ausnahmen durchsetzen, würde der Mindestlohn zum „Schweizer Käse“, warnt das Institut. Damit würde der allgemeine Mindestlohn systematisch unterlaufen, und ein neuer, eigener Niedriglohnsektor geschaffen, erklärte WSI-Leiter Reinhard Bispinck. Die Ausnahmen würden sich der WSI-Studie zufolge stark auf einige wenige Branchen konzentrieren: Knapp 56 Prozent aller erwerbstätigen Rentner, Schüler und Studenten mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro arbeiten entweder im Gastgewerbe, dem Einzelhandel, den unternehmensnahen Dienstleistungen oder den sonstigen Dienstleistungen wie beispielsweise Wäschereien oder das Friseurgewerbe. Die Folgen weitgehender Ausnahmen für den Arbeitsmarkt seien nicht absehbar, erklärten die WSI-Experten. Es bestehe die Gefahr, dass es zu erheblichen Verdrängungs- und Substitutionseffekten komme, dass Unternehmen also Beschäftigte mit Mindestlohn durch solche ohne Mindestlohn ersetzen. Daher müsse der Mindestlohn wirklich für alle Arbeitsverhältnisse gelten, forderte Bispinck.

Die Studie zeige eindrücklich, dass es CDU und CSU nicht um Ausnahmen vom gesetzlichen Mindestlohn gehe – sie wollten ihn systematisch unterlaufen, sagt Brigitte Pothmer, Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik in der Grünen-Bundestagsfraktion. Sie hintertrieben das Ziel eines Mindestschutzes von Beschäftigten vor Lohndumping. „Arbeitsministerin Nahles muss endlich ein Machtwort sprechen und die Unionspläne verhindern. Vor allem die Forderung nach Ausnahmen für Studierende und Rentner gehört endlich abgeräumt“, sagte Pothmer.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hatte in einer Expertise für Pothmer festgestellt, Ausnahmen für bestimmte Arbeitnehmergruppen seien verfassungsrechtlich bedenklich, weil sie gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstießen. Ausnahmen für Auszubildende, Ehrenamtliche und Praktikanten seien dagegen sehr wohl möglich. Der Gesetzgeber könne aber auch Arbeitnehmer von der Mindestlohnregelung ausnehmen, wenn er dies mit „übergeordneten arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Erwägungen“ begründen könne. Als mögliche Gründe führt das Gutachten auf: Wegfall von Arbeitsplätzen, Wettbewerbseinbußen oder das Abwandern von Arbeitsplätzen in die Schattenwirtschaft.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verteidigte die Einführung des Mindestlohns. „Es ist auch ein Erfolg der Tarifpolitik, dass die Zahl der Menschen, die weniger als 8,50 Euro verdienen, sinkt – aber deswegen ist die Einführung des Mindestlohns nicht weniger dringlich“, erklärte DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki. Die Arbeitgeber beharrten dagegen auf Ausnahmen von der Lohnuntergrenze.