Die Sozialdemokraten diskutieren, wie sie wieder den Kanzler stellen können und warum sie die Bundestagswahl verbockt haben. Scholz‘ Mantra: Professionelles Regieren, weniger Maulheldentum.

Berlin/Hamburg. Wenigstens in einem Punkt kopiert die SPD-Führung die Machtpolitik Angela Merkels: So wie die CDU-Vorsitzende ihre Partei die Gründe ihrer miserablen Wahlergebnisse 2005 und 2009 nie offen diskutieren ließ, so spart sich die SPD-Spitze eine selbstkritische Analyse ihres 25,7-Prozent-Debakels vom 22. September. Bisher wenigstens. Einige Sozialdemokraten indes wagen eine solche Betrachtung, unter ihnen der stellvertretende Parteivorsitzende, Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz, sowie einige jüngere Mandatsträger.

„Die SPD ist wieder im 20-Prozent-Käfig der 50er-Jahre angelangt“, schreibt Scholz mit Blick auf die jüngste Wahl in einem Aufsatz für die „Berliner Republik“. Deren neue Ausgabe widmet sich dem Thema: „Wo bitte geht’s zur Mehrheit? Wie die SPD zu neuer (und alter) Stärke finden kann.“ Die Antworten fallen darauf unterschiedlich aus, so wie es Tradition hat bei der SPD. Doch versuchen einige bekannte und einige eher unbekannte Autoren, eine solche Debatte anzustoßen. Scholz etwa plädiert dafür, an alte sozialliberale Traditionen anzuknüpfen, und stellt den Begriff „Mehrheitsfähigkeit“ in den Mittelpunkt seiner Analyse. Mit dem Wahlergebnis von deutlich unter 30 Prozent dürfe sich die SPD „nicht zufrieden geben“, schreibt der mit einer absoluten Mandatsmehrheit regierende Erste Bürgermeister. „Bei allen Wahlen während der Zeit der sozialliberalen Koalition konnte die SPD Wahlergebnisse oberhalb der 40-Prozent-Marke verteidigen.“ Die jüngste Bundestagswahl habe gezeigt: Das Volk „hätte uns gern dabei .... aber will derzeit nicht, dass wir diejenigen sind, auf die es in einer Regierung ankommt“.

Professionelles Regieren, weniger Maulheldentum – das ist Scholz’ Mantra. Er kleidet das in Worte wie: „Ich glaube, dass es sehr davon abhängt, ob man uns die Führung des Staates zutraut.“ Ob Scholz seinem Vorsitzenden Sigmar Gabriel derlei zutraut, darf man bezweifeln. Und doch ruft er seine Partei dazu auf, auch in der Großen Koalition möge sie „frühzeitig darüber nachdenken, wie sie nach den nächsten Wahlen 2017 die Bundesregierung führen kann“, denn: „Das österreichische Szenario der Großen Dauerkoalition sollten wir vermeiden.“

Das sieht gewiss so auch Anke Hassel, Professorin für Public Policy an der Hertie School of Governance in Berlin. Sie aber ruft nach Reformen in der SPD und nach einer Frauenstrategie. Hassel beschreibt die Sozialdemokratie gewissermaßen als alten (westdeutschen) Onkel, verordnet ihr eine Verjüngungskur – und mehr Frauen. „Netzaffine Feministinnen sind der Kontakt zur nächsten Generation und keine Dekoration auf Podiumsdiskussionen“, schreibt Hassel in der „Berliner Republik“. Über die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) mokiert sich Autorin Hassel. Mit der AsF dominiere in der SPD ein „institutionalisierter Feminismus, der oftmals verhärtet und verkämpft erscheint. Diese Form des Feminismus wirkt so, als sei er bei August Bebels Schrift ,Die Frau und der Sozialismus‘ stehen geblieben“.

So harsch formulieren es fünf junge Sozialdemokratinnen in einem gemeinsamen Aufsatz nicht, doch auch sie verlangen eine Reform der eigenen Partei. Liv Assmann, Bettina Bundszus, Leonie Gebers, Juliane Seifert und Lilian Tschan – sie alle arbeiten für Regierungen oder Fraktionen auf Bundes- und Landesebene – rufen die SPD zu einem „moderneren Habitus“ auf. Deren Führung müsse „breiter aufgestellt sein ... Dazu gehören mehr Frauen in Spitzenpositionen, mehr Jüngere, mehr Parteimitglieder mit Einwanderungsbiografie“. Kurzum: „Wollen wir eine Volkspartei sein, dann müssen wir das Volk auch abbilden.“ Im Bundestagswahlkampf sei die SPD „an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Deutschland vorbeigerannt“, schreiben die fünf Autorinnen. Für all jene, „die nicht im Niedriglohnbereich arbeiten oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind, hatten wir kein attraktives Angebot“, lautet die schonungslose Selbstanalyse. Wollte die SPD nicht einmal die „Mitte“ verkörpern?

Ausgesprochen kritisch blicken die meisten Autoren auf den Bundestagswahlkampf der SPD zurück. Man habe die gute Stimmung in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen, analysiert Ernst Hillebrand, Referatsleiter bei der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Er fragt: „Haben wir wirklich für dieses Land Wahlkampf gemacht? Oder für ein ganz anderes, imaginiertes? ... Ganz selten nur war der Versuch erkennbar, den Stolz der Menschen auf das von ihnen Geleistete und Geschaffte zu adressieren und zur Basis eines sozialdemokratischen Politikentwurfs zu machen.“ Die SPD habe eine „Wahlkampagne ohne Empathie und positive Symbolik“ organisieren lassen, bemängelt Sozialdemokrat Hillebrand.

Der Politikwissenschaftler Colin Crouch hat vielleicht mit seinen Abstand zu Befindlichkeiten in Deutschland und der SPD die Gabe eines scharfen Blicks auf das große Ganze. Er schildert drei Auswege aus der prekären Lage der SPD, zwei davon nennt er „verheerend“. Defensiv in Verhaltensmuster der alten Linken zurückzufallen biete keine Chancen. Für Modell zwei, die Fortsetzung von „Drittem Weg“ und „Neuer Mitte“ – kurzum: Neoliberalismus –, gelte dies ebenso. Schwierig, aber hoffnungsvoll sei nur eine dritte Strategie, ist Crouch überzeugt: „Mit den Herausforderungen unserer Zeit offensiv, durchsetzungsfähig und angriffslustig“ umzugehen. Das klingt wieder sozialdemokratisch, im besten Sinne traditionell, wenngleich weniger nach Oskar Lafontaine oder Kurt Beck, sondern mehr nach: Willy Brandt oder Gerhard Schröder. Bleibt die Frage, wer Gabriels weibliche Verbündete werden kann für eine solch moderne Offensive.