Michail Chodorkowski ist frei und fliegt nach Deutschland. Dank der Hilfe von Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher

Moskau. Plötzlich ging alles ganz schnell. Knapp einen Tag nach der Ankündigung von Russlands Präsidenten Wladimir Putin, den prominentesten Gefangenen des Landes zu begnadigen, verließ Michail Chodorkowski bereits mit einer Privatmaschine von St. Petersburg aus Russland. Sein Ziel: Berlin. Am Freitagnachmittag kam der Kreml-Kritiker und einst reichste Mann Russlands in der deutschen Hauptstadt an und checkte im Hotel Adlon ein. Im Hintergrund zog ein Mann die Fäden, der Deutschland jahrelang nach außen vertreten hat und um den es in den vergangenen Jahren etwas ruhiger geworden war: Hans-Dietrich Genscher.

Genscher empfing Chodorkowski in Schönefeld. Der ehemalige Bundesaußenminister hatte die Freilassung maßgeblich begleitet. Der FDP-Politiker kennt den Russen noch aus seiner Zeit als Jukos-Chef. In den vergangenen Wochen traf er sich zweimal mit Putin, um über die Freilassung zu verhandeln oder, wie Genscher es am Freitag diplomatisch formulierte, über das Schicksal von Michail Chodorkowski zu sprechen. Eine solche Begnadigung ist eine heikle Angelegenheit, die Bundesregierung zum Beispiel kann nicht direkt handeln. Jemand wie Genscher mit seinen Kontakten und dem richtigen Fingerspitzengefühl ist da der richtige Mann, natürlich unterstützt von Kanzlerin, Außenministerium und deutscher Botschaft in Moskau. Die persönlichen Anwälte Chodorkowskis hatten Genscher angesprochen und gebeten zu helfen. Merkel hatte sich in den vergangenen Jahren mehrmals bei Putin für die Freilassung des ehemals reichsten Manns Russlands eingesetzt. Genscher vermittelte nicht nur, er besorgte auch eine Privatmaschine für den frisch Freigelassenen.

„Er ist erschöpft, aber sehr glücklich, endlich in Freiheit zu sein“, sagte Genscher „Spiegel Online“. Chodorkowski wolle sich nun zunächst zurückziehen und ausruhen. Nach Angaben Genschers will die Mutter des Putin-Gegners, Marina Chodorkowskaja, am Sonnabend nach Berlin kommen, um ihren Sohn nach den Jahren der Haft wiederzusehen.

Der Begnadigungserlass Putins ist knapp formuliert: „Geleitet von humanitären Prinzipien, verordne ich, den Häftling Michail Borisowitsch Chodorkowski, geboren 1963 in Moskau, zu begnadigen und von der weiteren Haftstrafe zu befreien. Dieser Erlass tritt am Tag der Unterschreibung in Kraft.“ Das war am gestrigen Freitag. Damit endeten für Chodorkowski zehn Jahre Haft. Der ehemalige Oligarch verließ das Straflager in Segescha im nördlichen Gebiet Karelien. Seine Haftstrafe wäre regulär im August 2014 abgelaufen. Die sensationelle Nachricht, dass er seinen Gegner freilässt, verkündete Putin am Donnerstag nach seiner Jahrespressekonferenz in Moskau. Putin sagte, Chodorkowski habe vor Kurzem ein Begnadigungsgesuch gestellt. Die Anwälte Chodorkowskis dementierten dies im ersten Moment, zogen aber später ihre Aussagen zurück, bis sie mit ihrem Mandanten sprechen können.

Ein Großteil der Bevölkerung glaubt dem Kreml und hält ihn für einen Dieb

Chodorkowski weigerte sich jahrelang, den Präsidenten um Begnadigung zu bitten. Das würde bedeuten, dass er seine Schuld akzeptiert. Er wiederholte aber immer wieder, dass seine Verfolgung politisch motiviert und unrechtmäßig ist. Am 12. November hat er dann doch ein Gesuch gestellt – aus familiären Gründen, wie aus einem Schreiben Chodorkowskis hervorgeht, dass seine Sprecherin Kulle Pispanen nach der Freilassung auf Facebook veröffentlichte. „Liebe Freunde, ich habe mich am 12. November an den Präsidenten gewandt mit der Bitte um Gnade angesichts familiärer Umstände und freue mich über die positive Entscheidung. Die Frage eines Schuldeingeständnisses hat sich nicht gestellt. Ich möchte allen danken, die alle diese Jahre den Fall Jukos verfolgt haben, und für die Unterstützung, die sie mir, meiner Familie und allen gegeben haben, die zu Unrecht verurteilt worden sind und die immer noch verfolgt werden. Ich freue mich schon sehr auf den Moment, wenn ich meine Familie umarmen und allen meinen Freunden und Kollegen persönlich die Hand schütteln kann“, heißt es darin.

Und weiter: „Ich denke besonders an diejenigen, die weiter in Haft sitzen. Ich danke besonders Herrn Hans-Dietrich Genscher für seine persönliche Anteilnahme an meinem Schicksal. Zunächst einmal werde ich meine Schuld bei den Eltern, meiner Frau und meinen Kindern begleichen und freue mich sehr darauf, sie zu treffen. Ich warte auf die Gelegenheit, die bevorstehenden Feiertage mit der Familie zu feiern. Ich wünsche allen ein glückliches neues Jahr und frohe Weihnachten.“

Chodorkowskis Mutter ist an Krebs erkrankt. Marina Chodorkowskaja, selbst wurde nach ihren eigenen Worten von den Ereignissen völlig überrascht. „Wir wissen gar nichts, wir wissen nicht ob und wohin wir fliegen sollten“, sagte am Telefon. Sie warte in Moskau auf Nachrichten von ihrem Sohn. Und: „Ich kann es noch nicht glauben. Es ist zu viel für mich seit gestern Nachmittag passiert.“

Unklar ist noch, was Chodorkowski seine Freilassung womöglich kosten könnte. Wird er sich nun politisch engagieren? „Er behauptet, er möchte nicht in die Politik gehen“, sagte die Journalistin Natalia Geworkjan, die gemeinsam mit Chodorkowski seine letzte Biografie geschrieben hat. „Er wird sich wohl in der nächsten Zeit erholen und mit seiner Familie zusammen sein.“ Während der Haftstrafe schrieb Chodorkowski viele Texte und gab schriftliche Interviews, in denen er die Politik des Präsidenten Putin kritisierte. Sein moralischer und politischer Einfluss war vor allem in oppositionellen Kreisen sehr bedeutend. Ein großer Teil der Bevölkerung glaubte jedoch der Version, die von den staatsnahen Medien verbreitet wurde – und hielt Chodorkowski für einen Oligarchen, der ein Verbrechen begangen hat.

Chodorkowski und Pussy Riot waren Russlands prominenteste Häftlinge

Eine Sondereinheit des Geheimdienstes FSB nahm Chodorkowski 2003 in seinem Privatflieger bei einer Zwischenlandung in Nowosibirsk fest und flog ihn dann nach Moskau. Sein Ölunternehmen Jukos wurde in der Folge zerschlagen. In zwei Verfahren wurde Chodorkowski Betrug, Steuerhinterziehung und Diebstahl vorgeworfen – er und sein Geschäftspartner Platon Lebedew wurden zu insgesamt elf Jahren Haft verurteilt. Als Hintergründe wurden politische Ambitionen und persönliche Rivalität mit Putin genannt. Chodorkowski saß seine Strafe in Sibirien und im Norden Russlands unter schweren Bedingungen ab, 2006 verletzte ihn ein anderer Häftling mit einem Messer.

Bis vor Kurzem zeigte sich Putin Chodorkowski gegenüber gnadenlos. „Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen“, sagte er etwa 2010 über den Ex-Milliardär während einer Bürgerfragestunde. Nun zeigte Putin eine überraschende Milde, nicht nur Chodorkowski gegenüber. Zwei inhaftierte Frauen aus der Punk-Band Pussy Riot, Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina, fallen unter eine Massenamnestie, die diese Woche vom russischen Parlament verabschiedet wurde. Sie können ebenfalls bis Ende Dezember freikommen. Auch sie werden kurz vor dem Ende ihrer Frist befreit. Sie wurden nach einem Auftritt in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale zu zwei Jahren Haft verurteilt und müssten eigentlich bis März 2014 sitzen.

Chodorkowski und die Frauen von Pussy Riot waren die prominentesten politischen Häftlinge in Russland. Wegen ihnen wurde Putin immer wieder von westlichen Politikern und Menschenrechtlern kritisiert. Vor den Olympischen Spielen, die im Februar 2014 in Sotschi am Schwarzen Meer stattfinden, versucht Putin, den Ruf Russlands aufzupolieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßte Chodorkowskis Freilassung. Über Regierungssprecher Steffen Seibert würdigte sie auch die Bemühungen Genschers in dem Fall. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach von einer „guten Nachricht“. Die Gespräche mit Russland über Rechtsstaat und Menschenrechte müssten aber auch in den nächsten Jahren mit Engagement weitergeführt werden. Menschenrechtler lobten Putins Schritt und boten Chodorkowski eine führende Rolle beim Aufbau der Zivilgesellschaft in Russland an.