Klare Mehrheit, aber dennoch viele Gegenstimmen auch aus dem eigenen Lager derGroßen Koalition. Gauck mahnt „Mut zu Reformen“ an

Berlin. Es ist kein Tag für politische Botschaften. Auch wenn sich fünf Stunden lang alles um die neue Regierung dreht. Es ist ein Tag der Begegnungen, der emotionalen Auftritte, der schönen Bilder und – wer weiß – historischen Momente. Fast drei Monate nach der Bundestagswahl wurde Angela Merkel am Dienstag zum dritten Mal seit 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt.

Dabei fehlten ihr 42 Stimmen aus der Großen Koalition von CDU, CSU und SPD. Vor acht Jahren, bei Merkels erstem großen Bündnis, waren es 51; aber die damaligen Partner hatten weit weniger Abgeordnete. Merkel sind solche Rechenspiele freilich herzlich egal. Mehrheit ist Mehrheit. Und diese ist grundsätzlich mit 504 von 631 Abgeordneten satt.

Der Tag beginnt um 9 Uhr morgens. Groß ist er geworden der Bundestag, das ist unübersehbar. Man drückt sich bis an die Saalwände. Es gilt das Mallorca-Prinzip. Wer früh kommt, erhält einen Platz an der Sonne. Sprich: in der Nähe der vorderen Reihen, wo jene sitzen, auf die die Fotografen ihre Kameras richten.

Dort nimmt auch die CDU-Chefin Platz, als einfache Abgeordnete. Bundestagspräsident Norbert Lammert schlägt Angela Merkel dem Parlament zur Wahl vor. Die Union applaudiert kräftig, die SPD stimmt zaghaft, wie aus dem Regierungsschlaf gerissen, ein. Einer, dem wohl nicht nach Applaus zumute ist, sitzt auf der Besuchertribüne in prominenter Gesellschaft.

Der Nur-noch-wenige-Minuten-Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hat sich als einziger Liberaler hergetraut. Er leistet Merkels Mutter Herlind Kasner, 84, und der Büroleiterin Merkels, Beate Baumann, Gesellschaft. Nach Merkels Wahl verschwindet er. Ein Abschied für immer?

Etwas weiter oben füllt die Familie von Ursula von der Leyen eine ganze Reihe. Lange sind Heiko von der Leyen sowie die fünf Mädchen und zwei Jungen nicht gemeinsam zu sehen gewesen. Die bekannten Fotos stammen aus der Zeit, als ihre Mutter noch Familienministerin war. Jetzt zieht von der Leyen ins Verteidigungsministerium ein, und auch ihre Kinder sind erwachsen geworden, junge Frauen und Männer.

Ihre Nachfolgerin im ersten Ministeramt, Manuela Schwesig (SPD), freut sich ebenfalls, ihren Mann und den sechsjährigen Sohn Julian begrüßen zu können. Papa Schwesig schießt von der Tribüne herab Fotos von Mutter und Kind. Später winken Schwesig und von der Leyen – da sind beide schon vereidigt – von der Regierungsbank gemeinsam den jeweiligen Familien zu. Auch Minister bleiben schließlich Menschen, Väter, Mütter, Freunde, Töchter und Söhne.

Fröhlich ist die Stimmung beim Bundespräsidenten. Der erhält gleich zweimal Besuch von nebenan. So will es das Protokoll. Nach ihrer Wahl kommt Merkel allein, um sich von Joachim Gauck ernennen zu lassen. Sie kehrt danach in den Reichstag zurück, um dort den Eid abzulegen. Mit ihren Ministern in spe macht sie sich dann erneut auf ins Schloss Bellevue. Den Preis für das längste Dauerlächeln neben Gauck bekommt dort wieder von der Leyen.

Sie und ihr Vorgänger Thomas de Maizière wagen als Erste eine Umarmung. Zu Scherzen ist Finanzminister Wolfgang Schäuble aufgelegt: Als von der Leyen ihm die Hand reichen will, salutiert er mit der rechten Hand, militärisch korrekt. Gelächter bei einigen Fotografen, irritierte Blicke bei den Ministern. Tags zuvor ließ sich schon Unionsfraktionschef Volker Kauder zum Salutieren hinreißen. Noch findet die Ministerin das alles ziemlich lustig.

Die Überraschung über die Personalie von der Leyen spricht auch zwei Tage nach Bekanntgabe noch aus allen Statements. Damit hatte nun wirklich keiner gerechnet, auch wenn Merkels Vorstellungen dazu, wie sie selbst sagt, „schon sehr alt“ seien. Ob sie von der Leyen das Amt übertragen hat, damit diese zeigen kann, dass sie sich auch auf einem Schleudersitz halten kann oder ob sie gerade darauf spekuliert, dass dieser Sitz auch von der Leyen aus ihrem Gesichtskreis schleudert, beschäftigt manchen Regierungs- und Oppositionspolitiker.

Es gibt innerhalb der Union nicht wenige, die davon ausgehen, dass die Kandidatin für 2017 wieder Angela Merkel heißen werde. Eine Nachfolgedebatte unternimmt jedenfalls bisher nur in der Presse zaghafte Gehversuche.

Allerdings, Differenzen, die das Verhältnis zwischen einigen CDU-Politikern – auch der Kanzlerin – mit von der Leyen im letzten Jahr zu dominieren schienen – man denke an die Diskussion über die Frauenquote – wirken jetzt wie weggeblasen. Als von der Leyen sich zu Merkels Wahl vor die Urne stellt, schreitet die Kanzlerin mit ihr lächelnd einige Meter fort. Wieder geht der Blick der Frauen hoch zu von der Leyens Familie.

Joachim Gauck ist der Einzige, der an diesem Morgen so etwas wie ein offizielles politisches Bekenntnis abgibt. Außer seinen Worten kennt das Protokoll nur Schwüre und die einführenden oder hinführenden Worte des Bundestagspräsidenten. „Deutschland braucht eine stabile und handlungsfähige Regierung“, sagt Gauck in Bellevue. Er erinnert an die ersten beiden Großen Koalitionen, die von 1966 bis 1969, die von 2005 bis 2009. „Was wird das Markenzeichen der dritten Großen Koalition sein?“, fragt der Bundespräsident – und mahnt „Mut zu notwendigen Reformen“ an.

Gauck blickt noch auf die vielen Jubiläen im kommenden Jahr – 100 Jahre Beginn des Ersten Weltkrieges, 75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkrieges, 25 Jahre friedliche Revolution –, um dann die Ernennungsurkunden zu überreichen. „Einmal werde ich sie vorlesen“, kündigt er an. Das trifft die Urkunde des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel. Gauck reicht Gabriel die Hand. So geht das mit den übrigen. „Sie kriegen immer die schwierigen Aufgaben“, flüstert Gauck dem neuen Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) zu.

Altmaier wirkt als Einziger an diesem Morgen eher unglücklich. Er wollte als der Umweltminister in die Geschichte eingehen, unter dem die Energiewende vorangekommen ist. Gerne hätte er weitergemacht. Aber Umwelt ging an die SPD, die Energiezuständigkeit an das Wirtschaftsministerium. Nun übernimmt er Ronald Pofallas Rolle als Kanzleramtsminister.

Am Mittwoch gibt Angela Merkel eine Regierungserklärung zum europäischen Rat ab, der am Donnerstag und Freitag in Brüssel stattfindet. Danach reist sie mit Außenminister Steinmeier nach Paris. Steinmeier reist anschließend nach Polen. Klingt alles irgendwie vertraut. Oder?