Der Partei- und Fraktionschef der schleswig-holsteinischen SPD könnte Führungskraft auf Bundesebene werden. Dem Harvard-Absolventen aus dem Norden wird alles zugetraut – sogar der „Heide-Mord“.

Berlin/Kiel. Am Ende würden sie ihn dann doch vermissen oben im Norden, diesen „Kotzbrocken“, wie ihn Forsa-Chef Manfred Güllner einst „mit Verlaub“ und Blick auf das sperrige Naturell des Sozialdemokraten beschrieb. Ralf Stegner, Partei- und Fraktionschef der schleswig-holsteinischen SPD, soll, wenn alles läuft wie geplant, nach der Regierungsbildung in Berlin neuer Generalsekretär der Bundes-SPD werden. Ein Job, der dem 54-jährigen Gastwirtssohn aus der Pfalz ein Leibgericht sein würde. Ja, ja, der Sekretär, das kann Stegner. Wenn er will. Und er will.

Es gibt weitere Etiketten, die man ihm in Kiel angeklatscht hat, ohne jede Zimperlichkeit: Wichtigtuer. Koalitionszerstörer. Intrigant. Verräter. Mann. Böser Bube. Tulius Destructivus. Rambo. Kaum ein Mensch im deutschen Politkosmos, den noch mehr Berufskollegen noch häufiger zum Teufel gewünscht hätten als diesen Ralf Stegner. Man hat ihm so ziemlich alles zugetraut hier oben in Kiel, sogar den sogenannten Heide-Mord, die Abwahl von Heide Simonis durch einen Abgeordneten der eigenen Partei.

Eine sehr steile These, der die frühere Ministerpräsidentin selbst nie etwas abgewinnen konnte. Sie hatte den gedankenschnellen Harvard-Absolventen eigentlich als ihren Nachfolger vorgesehen. Es kam dann bekanntlich ganz anders.

Peter Harry Carstensen, als christdemokratischer Ministerpräsident der eigentliche Profiteur des „Heide-Mords“, schwellen hingegen bis zum heutigen Tage deutlich sichtbar die Zornesadern, wenn er nur den Namen seines früheren Stellvertreters Stegner hört. Wenn die Schnappatmung dann nachlässt, sagt Carstensen, dass er ganz gerne gelassener geblieben wäre damals in der großen Kieler Koalition, die ihm eigentlich ganz gut gefallen hat. Aber es ging nicht. Es ging nicht. Es ging nicht. Nicht mit dem. Stegner. Das Regierungsbündnis scheiterte vorzeitig.

Man sieht also: Ralf Stegner ist als neuer SPD-Generalsekretär allererste Wahl. Wer einen Brocken wie Carstensen derart aus der Reserve locken kann, dem wird auch der dünnhäutigere Rest der Christdemokraten wenig Probleme bereiten. Zumal Offensive ohnehin die bevorzugte Gangart des versierten Debattenredners und Talkshowgastes Stegner ist. Ein Duell Alexander Dobrindt gegen Ralf Stegner zum Beispiel hätte sicher großen Satisfaktionscharakter für die Freunde des politischen Schenkelklopfens. Aber der CSU-Generalsekretär will ja jetzt Minister werden. In kleineren Parteien sind die Treppen einfach kürzer. Schade.

Stegner also, seit Monaten im Dauereinsatz. Wahlkampf, Talkshow, Wahlkampf, Talkshow, dazwischen Landtagssitzung, drei Tage, 300 Themen. Soziale Netzwerke pflegen, deren Kommunikationspotenzial er vor den meisten anderen Politikern erkannt hat.

Koalitionsverhandlungen, noch einmal 300 Themen, Regionalversammlung, dem schlaganfallgetroffenen Parlamentskollegen einen Besuch abstatten, Journalisten pflegen, Regionalkonferenz. Zum Beispiel Lübeck. Die SPD in der Hansestadt ist ein besonders widerständiger Haufen, immer für eine wirre Politrauferei zu haben, wenn es gegen „die da oben“ geht. Gegen die Bosse, gegen die Kieler, gegen Berlin, gegen den eigenen Bürgermeister, einen Sozialdemokraten natürlich. Also, sagt der Lübecker Kreisvorsitzende gleich zu Beginn der Regionalkonferenz: „Ich bin gegen den Koalitionsvertrag.“ Keine Blumen, kein Handschlag, stattdessen: Kontra.

Das ist genau die Art von politischer Auseinandersetzung, die Ralf Stegner gerne annimmt. Holz hacken kann er nämlich selbst sehr gut. Er hat das lange genug geübt im Kieler Landtag, wo der Freidemokrat Wolfgang Kubicki ein würdiger Kontrahent ist. Die beiden verbindet mittlerweile eine politische Hassliebe. In Lübeck redet Stegner das Wahlergebnis seiner Partei zunächst einmal noch schlechter („deprimierend“, „katastrophal“, „enttäuschend“), als es tatsächlich schon war. Um ein paar Sekunden später den auch von ihm ausgehandelten Koalitionsvertrag mit der Merkel-CDU noch ein wenig hübscher zu machen, als er aus sozialdemokratischer Sicht ohnehin erscheint.

„Lupenreine sozialdemokratische Rentenpolitik“ werde Schwarz-Rot betreiben, „lupenreine sozialdemokratische Flüchtlingspolitik“ dazu. Außerdem: Mindestlohn, Mietpreisbremse, Milliardenspritze für die Kommunen. Die Mütterrente? Da könne man als Sozialdemokrat ja wohl gar nichts dagegen haben. Und im Übrigen: „Politik taugt nur was, wenn sie das Leben der Menschen besser macht.“ Zitat Willy Brandt. Ein echtes Totschlagargument hier in Lübeck, wo die Sozialdemokraten nicht nur noch ein bisschen linker sind als anderswo in der SPD, sondern auch noch ein bisschen traditionsbewusster.

Beim abschließenden Stimmungsbild gibt es einen erkennbaren Vorsprung für die Befürworter des Koalitionsvertrags mit der CDU. In Lübeck! Man könnte sich die Auszählung des Basisentscheids am kommenden Wochenende jetzt eigentlich sparen. Der Drops ist gelutscht, und Ralf Stegner, inzwischen der profilierteste Parteilinke der SPD, hat seinen Teil dazu beigetragen. Fragt sich nur, ob Sigmar Gabriel ihn dafür auch wirklich belohnt. Ob er Andrea Nahles zur Ministerin macht und Stegner zum neuen Parteigeneral. In Kiel gehen die meisten Sozialdemokraten inzwischen von dieser Personalrochade aus, obwohl sich auch an der Förde rumgesprochen hat, dass Gabriel in solchen Dingen am Ende immer noch unberechenbar ist.

Gedanken macht man sich dennoch: Wer ersetzt Stegner als Fraktionschef? Ob er sein Landtagsmandat behalten könnte, was er müsste, wenn er Karriere und Existenz nicht gänzlich an Erfolg und guten Willen des zuweilen launischen Bundesvorsitzenden binden will? Wie es denn weitergehen könnte im Kieler Landeshaus, wo der präsidiale Ministerpräsident Torsten Albig und der forsche Partei- und Fraktionschef Stegner ihre jeweiligen Rollen gerade so sorgfältig austariert haben. Andererseits: Dieses kontrollierte Miteinander zwischen Parteichef und Ministerpräsident ist ja so etwas wie das Meisterstück des Parteipolitikers Ralf Stegner. So viel Disziplin, so viel Kompromissbereitschaft, so viel Demut samt der Fähigkeit, der Partei zu dienen statt sich selbst, hätten die wenigsten dem bis dahin immer so giftigen Stegner zugetraut. Er hat sich diese Fähigkeiten hart erarbeitet nach seiner bittersten Niederlage.

Stegner war seinem damaligen Kontrahenten Albig im Jahr 2011 bei einer Basisabstimmung über den künftigen Spitzenkandidaten der Nord-SPD deutlich unterlegen. Eine Blamage sondergleichen für den Parteichef. Durchaus ein Grund für eine fristlose Kündigung, die Albig damals nur hätte vollziehen müssen. Albig aber reichte Stegner gegen alle Erwartungen die Hand und kann sich seither auf einen zwar weiterhin entschieden ehrgeizigen, aber gleichermaßen entschieden loyalen Partei- und Fraktionschef verlassen. „Wenn es darauf ankommt, steht Stegner“, bezeugt ein enger Albig-Vertrauter diese aus einem verbissenen Zweikampf entstandene Symbiose, die am Ende beiden genutzt hat. Albig ist als Ministerpräsident ebenso unangefochten wie Stegner – wieder – als Parteichef. Und damit ist er schließlich erster Kandidat für das Amt des neuen SPD-Generalsekretärs.