Am Ende machten es die Parteichefs Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU) unter sich aus – und ließen ihr Fußvolk bis zum frühen Morgen warten. Das Protokoll der entscheidenden Stunden.

An manches muss man sich noch gewöhnen, wieder gewöhnen, genauer gesagt. „Ich stimme allem zu, was die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat“, sagt Sigmar Gabriel. „Was Frau Dr. Merkel sagte, stimmt“, befindet der SPD-Vorsitzende – und stellt wenig später fest: „Frau Dr. Merkel hat völlig recht.“ Es handelt sich um jenen Sigmar Gabriel, der noch bis vor wenigen Wochen öfter von „der Merkel“ sprach, der dieser Kanzlerin regelmäßig Wahlbetrug oder Verfassungsbruch oder beides vorwarf. Jener Gabriel also, der noch im Juli während einer Demonstration vor dem Kanzleramt in ein Megafon donnerte: „Frau Merkel ist eine Art Dieb, der der Jugend Europas die Zukunft klaut.“

Die Kanzlerin, die Diebin von einst also, und die Frau Dr. Merkel von heute: Sie sitzt zwischen Gabriel und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer. Sie hat sich das so gewünscht, die einladende Bundespressekonferenz hatte für Merkel eigentlich einen Sessel ganz rechts vorgesehen. „Ich wollte gerne beschützt sein“, begründet Merkel, warum sie zwischen Gabriel und Seehofer sitzen wollte.

Merkel zwischen Gabriel und Seehofer – es sind die beiden Männer, die machohaft frotzelnd und rauflustig den Ton vorgeben. Merkels demonstrative Sachlichkeit stört bei dieser Show fast: „Ich sitze ruhig und mache meine Arbeit.“ Solide Finanzen, Sicherung des Wohlstands, soziale Sicherheit – das nennt sie als die drei Schwerpunkte des Koalitionsvertrags. Erst als Merkel sich den Renten widmet, da kann Gabriel nicht anders, da strahlt er über beide Backen. Nicht nur hier hat seine SPD einiges durchgesetzt. „Es ist sehr interessant, wie man einen gleichen Sachverhalt so unterschiedlich betrachten kann“, analysiert Merkel die Koalitionsverhandlung, als wäre sie eine interessierte, aber unbeteiligte Beobachterin.

Nicht so Seehofer. Der Bayer nickt, als Gabriel vom „Koalitionsvertrag für die kleinen Leute“ spricht. Auch er wird gleich preisen, was man für die „kleinen Leute“ alles getan hat – beide inszenieren sich als Bewahrer des Sozialstaates. Merkel schweigt dazu – auch als Gabriel die Rente mit 67 (die hat mal eine Große Koalition eingeführt) „schlicht und einfach eine Rentenkürzung“ für viele Menschen nennt. Sie schweigt auch, als Gabriel die „solidarische Lebensleistungsrente“ erwähnt – ein teurer Mix aus zwei Konzepten: die Lebensleistungsrente (von Ursula von der Leyen, CDU) und die Solidarrente (SPD).

Während Merkel zur Begründung der Großen Koalition später auf den Wählerwillen abhebt, freut sich Seehofer ganz ungeniert über das neue Bündnis: „Ich wollte die Große Koalition von Anfang an.“ Er sei „hoch zufrieden“. Schließlich hat die CSU Wort gehalten. Sogar die Pkw-Maut kommt jetzt – obwohl Merkel dies noch im Wahlkampf persönlich ausschloss. Selbst die Entscheidung, Ressortzuschnitt und Ministernamen vorerst nicht zu nennen, begründen Gabriel (es gehe um Inhalte) und Seehofer („kluge Entscheidung“) geschlossen. Merkel weicht hier aus – ihre Vertrauten Hermann Gröhe und Volker Kauder hatten diesen Plan noch zu Wochenanfang wie eine absurde Idee abgetan.

Merkel als Kanzlerin einer Koalition mit zwei sozialdemokratischen Partnern. Dazu passt, dass die letzte und entscheidende Runde der Koalitionsverhandlungen im Willy-Brandt-Haus stattfand. Allerdings riss Merkel in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch die Hoheit über die Verhandlungen an sich, indem sie den Zeitplan auf den Kopf stellte. Da liefen die Verhandlungen immerhin schon sechs Stunden. Ab Mittag hatte die kleine Runde, also 15 Spitzenpolitiker, die Streitthemen durchgearbeitet, die nach acht Wochen Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen noch übrig waren: Mindestlohn, Rente, doppelte Staatsangehörigkeit und zahlreiche kleine und mittlere Meinungsverschiedenheit.

Sechs Stunden – doch für Merkel nicht genug: „Nur weil wir für einen bestimmten Zeitpunkt eingeladen haben, müssen wir noch lange nicht anfangen“, informierte sie die völlig verdutzten weiteren Unterhändler von CDU und CSU, die ab 19 Uhr mit der SPD in der großen Runde, den legendären 77-köpfigen „Rittern der Schwafelrunde“, ins Finale gehen wollten. Doch Merkel disponierte um: keine große Runde, kein Schwafeln, sondern ab 19.30 Uhr wieder das kleine Gremium der Entscheider. Die Kanzlerin hat es so gewollt – berichteten die SPD-Oberen ihrem Fußvolk. Eine seltsame Situation: Während sich die kleine Runde wieder einschloss, stromerten 62 Koalitionäre ziel- und lustlos durchs Willy-Brandt-Haus: „Wie lange müssen wir uns denn vorhalten?“, fragte eine genervte Julia Klöckner Merkel direkt. „Ach, so bis 4 oder 5 Uhr früh, würde ich schon rechnen“, antwortete die Kanzlerin daraufhin der CDU-Landesvorsitzenden von Rheinland-Pfalz kühl.

Auch andere äußerten Unmut: Die SPD-Zentrale präsentierte sich den beschäftigungslosen Politikern nicht übermäßig gastlich. Unionspolitiker beklagten sich über das Speisenangebot – es gab drei asiatische Gerichte zur Auswahl. Erst im Laufe der Nacht hatte die SPD Erbarmen mit den Freunden deutscher Hausmannskost und schaffte noch einige Buletten heran. Doch die Stimmung besserte sich erst, als im 6. Stock – in einem Foyer, in dem sonst Fahrer warten – zwei Fernseher entdeckt wurden: Nun schaute man gemeinsam Champions League: Borussia Dortmund gegen SSC Neapel.

Einen Stock darunter, im Präsidiumssaal, rangen Merkel, Gabriel, Seehofer und Co. einander die ersten Kompromisse ab: Lange hatte man über die Rente gestritten, jetzt einigte man sich auf: alles. Sowohl das Wahlversprechen der Union, die Erhöhung der Mütterrenten ab 1. Juli 2014 als auch der Köder der SPD für ihre Klientel, die abschlagsfreie Rente ab 63, wurden vereinbart. Das teure Vorhaben nutzt Menschen, die sehr lange in einem von kurzen Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochenen Berufsleben standen. Außerdem gibt es noch die einst von Ursula von der Leyen erfundene Lebensleistungsrente für Geringverdiener. In einem wichtigen Detail setzte sich hier überraschend die SPD durch: Die Lebensleistungsrente soll mit einem Steuerzuschuss in die Rentenkassen finanziert werden. Merkel wird dies später bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags als „ordnungspolitisch sauberen Weg“ loben.

Solche Überlegungen trübten in der entscheidenden Nacht nicht die Stimmung im Willy-Brandt-Haus: Als Noch-Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) mit einem Weißweinglas herumstrich, sprang ihm keck der Landesvorsitzende der NRW-CDU, Armin Laschet, in den Weg: „Maut – sonst darfst du nicht passieren“, frotzelte Mautgegner Laschet den Mautbefürworter Ramsauer an. Der konnte gute Miene zum Klamauk machen. Die umstrittene Straßengebühr war schon in der Nacht zuvor entschieden worden.

Die SPD setzte ihren Treffer, als das Fußballspiel um kurz nach elf Uhr gerade mit 3:1 zu Ende gegangen war. Merkel und Seehofer gaben beim Mindestlohn nach. Welche Ausnahmen möglich sind, behielten die Koalitionäre allerdings erst einmal für sich. Wohl auch, weil die komplizierte Regelung, die man gefunden hatte, nicht von jedem sofort verstanden wurde. So soll die Schwelle von 8,50 Euro zwar 2015 beschlossen werden, aber erst 2017 flächendeckend gelten. Bis dahin sind Ausnahmen in Branchen möglich, die Tarifverträge abgeschlossen haben. Gabriel wies am nächsten Tag mehrmals darauf hin, dieses Modell werde auch von den Gewerkschaften mitgetragen.

Um Mitternacht – immer noch verhandelten wenige, während viele warteten – drohte die Stimmung zu kippen. Wäre nicht Klaus Wowereit (SPD) gewesen, hätten einige der herumstehenden Minister und Abgeordneten vielleicht an die geschlossene Tür der Verhandler gepocht. Doch der Regierende Bürgermeister von Berlin produzierte sich mit Witzchen und Anekdoten vor einem ständig größer werdenden Publikum. „Eine tolle Kabarettnummer“, staunte ein Christdemokrat aus der Provinz.

Hinter den Türen des Präsidiumszimmers war derweil längst Schluss mit lustig. Die Knackpunkte waren jetzt dran: die Gesundheitspolitik, mehr Geld für die Länderaufgabe Bildung vom Bund und die Ausweitung der doppelten Staatsbürgerschaft. Und natürlich das wohl schwierigste Problem überhaupt: die Gesamtfinanzierung. War jetzt endlich die Stunde der Kanzlerin gekommen? Immerhin hatte sie bei den Verhandlungen persönlich durchgesetzt, dass alle geplanten Mehrausgaben auf eine „F-Liste“ kamen und als nicht beschlossen galten.

50 bis 60 Milliarden Euro standen, je nach Rechnung, auf dieser Liste. Zehn Milliarden wollte Merkel daraus ursprünglich machen – also hätte sie die meisten Wunschprojekte streichen müssen. Doch noch vor Beginn des Abends wechselte die Zielvorgabe: Jetzt sollten immerhin 15 Milliarden Mehrausgaben drin sein. Später erhöhte die Union auf 16 Milliarden. Die SPD meinte jedoch, es seien 46 Milliarden notwendig – 30 Milliarden mussten folglich noch wegverhandelt werden. Hier ging es nun mühselig voran.

Die Sparentscheidungen sind der eigentliche Test, ob die Große Koalition realitätstauglich ist. Kein Wunder, dass die Kanzlerin darüber erst ganz zuletzt entscheiden wollte – und im kleinen Kreis. Kurz nach ein Uhr nachts zogen sich Merkel, Seehofer und Gabriel zum ersten Mal zu dritt zurück. Diese Chefrunde beriet rund eine Stunde – dann bat Gabriel um Unterbrechung. Er rief seine Genossen zusammen und unterrichtete sie über die bisherigen Ergebnisse. Merkel und Seehofer sammelten ihre Parteifreunde um sich, hielten sich aber bedeckt – man warte auf die SPD.

Um halb sechs trat die große Runde zusammen. Zehn Stunden hatten ihre Teilnehmer nun auf diesen großen Moment gewartet. Wer sich hier als Sieger fühlte, musste man nicht erspüren, man konnte es hören: „Wann wir schreiten Seit' an Seit' und die alten Lieder singen“, hatten die Sozialdemokraten ein altes Kampflied angestimmt, dessen nächste Zeile lautet: „Wissen wir, es muss gelingen. Mit uns geht, die neue Zeit, mit uns geht ein neuer Geist!“ Hatte sich Merkel am Ende also doch einen Politikwechsel abhandeln lassen? Ganz am Schluss, sogar noch nach den Finanzen, hatten sich die drei Parteichefs auf das Ende des Optionszwangs geeinigt. Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Menschen mit zwei Pässen entfällt die Pflicht, sich mit 23 Jahren auf eine Staatsangehörigkeit festzulegen. Eine generelle Möglichkeit zum Doppelpass etwa bei Einbürgerungen gibt es nicht. Darauf hatte die Union bestanden. Dennoch kann die SPD diese Entscheidung als Sieg verbuchen.

Und die Finanzen: 23 Milliarden Euro Mehrausgaben sind es am Ende geworden. Davon kann man die acht zusätzlichen Milliarden für Forschung und Bildung als Zukunftsinvestition werten. Aber allein die Erhöhung der Mütterrente ist teurer. Der Bund will nun Grundfinanzierung der Hochschulen einsteigen. Allerdings bekommen die Kommunen mittelbar Geld in die Hand, indem der Bund die Eingliederungshilfe für Behinderte übernehmen will. Das bringt ihnen im Jahr fünf Milliarden Euro. Die sollen – das ist erklärter Wille – in Bildung fließen. Weitere fünf Milliarden Euro bekommt der Bereich Infrastruktur über die gesamte Legislaturperiode. Die Einnahmen aus der Maut sind noch nicht enthalten.

Was passiert eigentlich, wenn die historisch hohen Steuereinnahmen, die die Grundlage für die Planung bilden, wider Erwarten nicht weitersprudeln? Nimmt die Große Koalition dann die teuren Projekte zurück, oder werden doch wieder neue Schulden aufgenommen, wurden Merkel, Seehofer und Gabriel bei der Vorstellung der Pläne gefragt. Merkel antwortete ausweichend. Nur für den anderen Fall – dass es noch mehr Geld zu verteilen gibt – hat man schon einen konkreten Plan. „Wenn es neue Spielräume gibt, dann werden wir das zwei Drittel zu ein Drittel zwischen Bund und Ländern aufteilen“, sagte Merkel. Gabriel und Seehofer nickten zufrieden.