Union und SPD diskutieren über die doppelte Staatsbürgerschaft. Doch was heißt ein solcher Schritt im Alltag? Kann es Loyalität zu zwei Staaten geben? Gibt es andere Lösungen? Drei Menschen, drei Antworten.

Jeder trägt den Staat mit sich, im Portemonnaie, in der Handtasche, im Koffer. Der deutsche Personalausweis, so groß wie eine Kreditkarte, mit Foto, Unterschrift und Datenchip – er macht aus einem Menschen einen Bürger der Bundesrepublik, mit allen Rechten und Pflichten. Doch dieser Ausweis ist mehr als das. Für viele Menschen bedeutet er auch: Ich gehöre zu diesem Land. Das ist meine Heimat.

Oder? Kann eine Person loyal zu zwei Staaten sein? Geht es in der modernen Welt überhaupt noch anders? SPD und Union streiten derzeit darüber in Berlin. „Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht drin ist“, sagt Parteichef Sigmar Gabriel. Die Union will diesen Schritt nicht so einfach mitgehen. Das Für und Wider bei der doppelten Staatsbürgerschaft ist Markenkern beider Parteien. Und ein Dauerstreit. Wie geht es den betroffenen Menschen im Schatten dieser Debatte?

Hayriye Oguz, die gebürtige Türkin

Auf einmal war er da, dieser Moment, für den Hayriye Oguz lange kämpfen musste und in dem es ihr dann doch mulmig wurde. Die Frau im türkischen Konsulat an der Außenalster nahm den Pass von Oguz in die Hand, klemmte ihn zwischen den Locher und drückte drauf. Die dünnen Metallstäbe des Lochers bohrten sich durch das Papier mit dem Halbmond und durch das Passfoto von Oguz. Türkiye Cumhuriyeti, stand auf der dunkelblauen Hülle, Türkische Republik. Und Oguz dachte nur: „Jetzt bist du keine Türkin mehr.“

Oguz ist heute 42 Jahre alt, sie ist in Hamburg geboren, sie ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen, sie arbeitet hier und zahlt in Deutschland Steuern. Und doch war sie immer die Türkin. In der Schule, als sie als Kind im Laden um die Ecke Milch holte, auch später noch, wenn sie Leute kennenlernt. Wo kommst du her? „Aus Hamburg.“ Ja und noch? Spanien?

Seit dem 6.November 2000 ist Oguz keine Türkin mehr. Zumindest auf dem Papier. Seit diesem Tag vor 13 Jahren hat sie einen deutschen Pass. Ihre türkische Staatsbürgerschaft musste sie aufgeben. Sie hat der Behörde ihre Unterschrift dafür gegeben, dass sie „unverzüglich die notwendigen Schritte einleitet, um den Verlust meiner Staatsangehörigkeit herbeizuführen“, wie es in der Verpflichtungserklärung der Behörde heißt. Es gibt diesen Papierkram, den Weg zu den Behörden, den Oguz einige Male gegangen ist, bis klar war, dass sie Deutsche werden darf. Doch auch das Herz und der Kopf eines Menschen müssen diesen Weg gehen – den Weg von der Türkin zur Deutschen.

Für Hayriye Oguz begann dieser Weg, als ein Skinhead aus der Oberstufe ihren Vater verprügelte. „Er hat mich abgeholt von einer Schulfeier und musste noch kurz auf mich warten. Als ich zurückkam, lag er am Boden auf dem Schulhof vor der Aula“, erzählt Hayriye Oguz. Der Angriff löste in der Schule heftige Diskussionen aus, Lehrer berieten in einer Konferenz, wie sie damit umgehen sollten. „Aber mein Vater hat den Mund nicht aufgemacht“, sagt Oguz. Er hat keine Anzeige erstattet, er hat nicht geklagt.

Hayriye Oguz hat das Schweigen ihres Vaters wütend gemacht. Sie will über dieses Land mitentscheiden, auch bei Wahlen. Sie will laut sein. „Das geht nur mit dem deutschen Pass“, sagt sie.

Ihre Eltern kamen als Gäste nach Hamburg, zum Geldverdienen, und sind dann ein Leben lang geblieben. Hayriye Oguz fühlt sich als Gast, wenn sie heute zum Urlaub in die Türkei fliegt. „Dann bin ich die Türkin aus Deutschland.“

Es liegen einige Jahre zwischen dem Angriff auf ihren Vater und jenem Tag, an dem sie die deutsche Staatsbürgerschaft annahm. Jahre, in denen das Thema wieder vom Tisch war, Jahre, in denen sie kein Geld hatte für die Gebühren der Einbürgerung, Jahre, in denen sie ihren Sohn alleine großzog. Ihre Eltern sehen sich noch heute als Türken. Hayriye Oguz sagt: „Ich bin Deutsche und Türkin. Und Hamburgerin.“ Das Reisen ist leichter geworden mit dem neuen Ausweis, sie geht wählen. Häufig ist sie für andere aber noch immer die Türkin. Auch mit deutschem Ausweis. „Sie sehen ja nicht, welchen Pass ich in der Tasche habe.“

Als er 18 Jahre alt wurde, musste sich auch Oguz’ Sohn zwischen dem türkischen und dem deutschen Pass entscheiden. In einer Zeit, in der Teenager lieber Kumpels treffen, Sport machen oder in die Disco gehen. „Menschen in dem Alter können doch gar nicht abschätzen, was diese Entscheidung bedeutet“, sagt Oguz. Für die eigene Identität, für das Leben. „Ich habe ihn gefragt: Wo willst du leben? Wo arbeiten?“ Als türkischer Staatsangehöriger hätte er auch zwei Jahre Militärdienst in der Türkei ableisten müssen.

Am Tag, als Hayriye Oguz beim türkischen Konsulat ihren Pass entwerten lässt, ist ihr Sohn dabei. Auch er entscheidet sich gegen den türkischen Pass. Als die Beamtin im Konsulat ihn fragt, warum er die deutsche Nationalität bevorzugt, antwortet er mit einem Augenzwinkern: „Weil meine Mama das will.“

Bachir Yzidi, der Mann mit den zwei Ausweisen

In Anzug und Krawatte sitzt Bachir Yzidi in seinem Büro einer Firma für Elektrozigaretten in Seevetal und telefoniert mit einem Kunden. Projekte. Von Montag bis Freitag, nine to five. Klingt normal – doch für den gebürtigen Algerier ist es das ganz und gar nicht. Für Yzidi ist es mehr als nur ein Job. Zum ersten Mal in seinem Leben spürt er Sicherheit. Yzidi ist 39 Jahre alt. Dass er diese Sicherheit spürt, liegt vor allem daran, dass er nicht nur den algerischen Pass besitzt, sondern seit zwei Jahren auch den deutschen. Bis dahin war es ein langer Weg: Yzidi ist in Algerien geboren. Dort lebte er mit seinen Eltern, drei Brüdern und später mit seiner Freundin Amel zusammen. Seit er ein Teenager war, tobte um ihn herum der Bürgerkrieg. Auf dem Weg zur Uni sah er Leichen auf der Straße, sein Professor wurde erschossen, wenn er nachts im Bett lag, hörte er Explosionen.

Richtig bewusst wurde ihm der Wahnsinn erst, als er 1995 mit Partnerin Amel bei Freunden in Rumänien war – eigentlich sollte es ein Urlaub werden. Doch sie blieben Monate, ihr Kind wurde geboren. Erst als Yzidi hörte, dass sich die Lage in Algerien angeblich beruhigt hat, buchte er den Rückflug. Dass dieser über Frankfurt führte, nennt er heute das „größte Glück seines Lebens“. Im Transitbereich des Airports hörte Yzidi von einem grausamen Massaker in Algerien.

Noch am Flughafen stellte das Paar den Asylantrag. Es dauerte fünf Tage, bis man sie in ein Asylbewerberheim in Chemnitz schickte. Zwölf Quadratmeter für ihn, seine Freundin und ihr Baby. Yzidi verstand schnell, dass es bürokratischer zugeht als daheim. Paragrafen und Klauseln. Es dauerte Monate, bis sie eine Aufenthaltsgenehmigung bekamen und das Heim verlassen durften.

Yzidi wusste sofort, wohin er wollte: nach Hamburg: „Jemand hatte mir erzählt, dass die Stadt am Wasser liegt.“ Vielleicht wie am Mittelmeer? Und so zog die junge Familie mit 15 Mark in der Tasche an die Elbe, in eine Wohnung in Neugraben. Beide gingen putzen, um Geld zu verdienen. Yzidi bewarb sich an der Universität Hamburg für ein BWL-Studium. Er bekam eine Zusage, zwischen Hörsaal und Arbeitsgruppen lernte er Deutsch. „Die Angst, dass man uns wieder zurückschickt, versuchten wir zu verdrängen“, sagt Yzidi.

Nach dem Studium schrieb er rund 700 Bewerbungen und bekam genau so viele Absagen. Die Pechsträhne hörte erst auf, als seine Aufenthaltsgenehmigung entfristet wurde. Er ging mit der Urkunde sofort zum Amt, um endlich den deutschen Pass beantragen. „Erst mit dem Pass war ich die Angst, abgeschoben zu werden, wirklich los.“ Außerdem war er sicher, dass der Pass die Eintrittskarte zum Arbeitsmarkt ist. Kurze Zeit später bekommt er tatsächlich eine Zusage. Von der Seevetaler Firma.

Dass er für den neuen Pass den alten nicht abgeben musste, liegt nur daran, dass der algerische Staat seinen Bürgern nicht erlaubt, die Staatsangehörigkeit abzulegen. Für Yzidi ist der algerische Pass auch eine Erinnerung an die ersten 20 Jahre seines Lebens. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. In Deutschland vergisst er manchmal fast, dass da neben dem dunkelroten auch noch ein dunkelgrüner Ausweis in der Schublade liegt. Er kramt ihn nur noch heraus, wenn er zu Verwandten nach Algerien fährt. Mittlerweile fühlt er sich längst als Deutscher. Nur die Sache mit dem Humor klappt noch nicht so gut. „Ich verstehe die deutschen Witze nicht.“ Bis auf einen: „Eine Deutscher und ein Ausländer leben im selben Haus. Als das Haus abbrennt, überlebt nur der Deutsche. Warum? Weil er auf Arbeit war.“ Verstanden hat er ihn, lachen kann Yzidi darüber nicht.

Nicola Moss, die Britin, die sich als Hamburgerin fühlt

Auf einmal lag es im Briefkasten, das Schreiben vom Bürgermeister. Olaf Scholz lächelt von einem Foto in der Ecke, daneben der Briefkopf der Hansestadt. „Sehr geehrte Frau Moss“, so höflich fing er an. So höflich ging es weiter: Ob sie nicht Deutsche werden wolle, schließlich fühle sie sich bestimmt längst als Hamburgerin. Ihre Heimat, das sei doch hier. Nicola Moss rief ihren Bruder an. „Du, ich wusste gar nicht, dass die Deutschen neue Staatsbürger suchen.“ So kurz vor der Bundestagswahl. Beide feixten sich einen.

Eigentlich wollten Moss’ Eltern schnell zurück nach England, als der Vater in den 70ern einen Job in der Nähe von Gladbach antrat. Es war der Satz ihrer Kindheit: „In ein paar Monaten geht’s zurück.“ Die kleine Nicola ging auf die britische Schule, die Tante nahm in der Heimat den „Blue Peter“ auf Videokassette für sie auf, eine britische Kindersendung, und schickte sie nach Deutschland. Freunde aus der Schule zogen fort, mit ihren Diplomaten-Eltern nach China, Nigeria oder Japan. Moss blieb. Sie unterschrieb einen Brief der Behörden, ihre Aufenthaltsgenehmigung als Britin war reine Formsache. Die Eltern kümmerten sich. Heute sind sie Rentner in Deutschland.

Sie, die nie Deutsche werden wollte, die mit englischen Serien und englischem Frühstück aufwuchs und, bis sie zwölf Jahre alt war, eine britische Schule in Deutschland besuchte. Sie, die heute 37 Jahre alt ist, noch immer mit ihren Eltern Englisch spricht und in Hamburg alles machen kann: reisen, studieren, arbeiten. Sie also lud der Bürgermeister ein, dass sie Deutsche werden soll. Moss legte den Brief zur Seite.

„Für mich war damals klar: Ich gehe nach der Schule zurück nach England“, sagt Moss heute. In der Oberstufe schrieb sie eine Klausur komplett auf Englisch, ohne es zu merken. Moss hatte Probleme mit den Artikeln vor den deutschen Wörtern und mit dem „Ü“ und dem „Ö“. Sie lernte fleißig, nahm Nachhilfe. Aber Deutsche werden? Stand nicht zur Debatte. Zum Studieren ging Moss dann nach Belgien, weil Freunde dort hingingen.

Ein paar Jahre später kam sie zurück, nicht nach England, sondern wieder nach Deutschland. Der Liebe wegen. 2005 zog sie nach Hamburg. Heute arbeitet Moss als freie Marketing-Beraterin. „Mich buchen Firmen vor allem für Projekte in England oder mit britischen Partnern.“ Ihre Herkunft ist die Basis ihres Geschäfts.

Nicola Moss spricht mittlerweile Deutsch ohne Akzent, sie hat blondes Haar, blaue Augen. Sie könnte in Mannheim geboren sein oder in München. Moss selbst hat es in der Hand zu entscheiden, ob sie ihre Herkunft zum Thema machen will. Das unterscheidet sie von Hayriye Oguz.

„Meine Heimat ist England“, sagt Moss. Obwohl sie nie länger dort gelebt hat. „Aber mein Zuhause ist Hamburg.“ Das Schreiben vom Bürgermeister hat sie in einer Schublade aufbewahrt. Man weiß ja nie.