Die langwierigste Regierungsbildung in der Geschichte der Bundesrepublik nähert sich ihrem Ziel. Doch noch sind viele Fragen offen

Hamburg. Dass es dauern würde, war schon am Wahlsonntag klar. „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“, hat die Siegerin Angela Merkel am 22. September als Devise für die erwarteten Gespräche über eine künftige Regierungskoalition ausgegeben. Ob die Kanzlerin aber wirklich die Absicht hatte, den deutschen Rekord bei der Koalitionsfindung zu brechen, bleibt vorerst ihr Geheimnis.

Gemessen wird die Dauer der Regierungsbildungen vom Tag der Bundestagswahl bis zur Vereidigung des Kabinetts. Im Durchschnitt hat das in der deutschen Nachkriegsgeschichte 37,9 Tage gedauert. Am schnellsten wurden sich SPD und FDP 1969 und Union und FDP 1983 einig: 24 Tage nach der Bundestagswahl standen Koalitionsvertrag und Regierung. Bisher am längsten brauchten SPD und FDP 1976 mit 73 Tagen. Diese Marke wird dieses Mal locker übertroffen. Am heutigen Dienstag sind 65 Tage seit der Wahl vergangen. Und selbst wenn wie geplant bis Mittwoch noch alle Streitfragen ausgeräumt werden sollten, müssen dann noch die rund 473.000 SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen. Am Nikolaustag erhalten sie die notwendigen Unterlagen dafür. Bis zum 15. Dezember soll ausgezählt werden. Bis dahin sind 84 Tage seit der Wahl vergangen. Und wenn das ganze Unternehmen an der sozialdemokratischen Basis scheitern sollte, kommt eine unbestimmte Zahl weiterer Tage ohne neue Regierung hinzu.

Die Länge von Koalitionsverhandlungen sagt nichts über die Qualität des dann geschlossenen Vertrages aus. Allenfalls etwas über die Menge der Differenzen der künftigen Partner. 2009 stand die schwarz-gelbe Wunschregierung schon 31 Tage nach der Wahl. Ihre Bilanz gilt freundlich formuliert als eher durchwachsen. Dass es jetzt deutlich länger dauert, bis ein Vertrag unterschrieben ist, muss also kein schlechtes Zeichen sein.

Auf jeden Fall rüsten sich die Partner in spe jetzt für einen geradezu atemberaubenden Schlussspurt. „In weniger als 48 Stunden sind die Verhandlungen beendet. Und ich glaube, sie werden erfolgreich beendet“, gibt sich SPD-Fraktionsmanager Thomas Oppermann vor der vorletzten Verhandlungsrunde im kleinen Kreis von 15 Teilnehmern in der CDU-Zentrale optimistisch. Allerdings liegen in der Schlussrunde von kleiner und großer Verhandlungsgruppe noch mächtige Brocken auf dem Tisch. Die SPD will eine abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren – unklar ist allerdings, ob das für 45 Versicherungsjahre mit Phasen ohne Beschäftigung gilt oder für 45 Beitragsjahre. Die CDU will die Mütterrente durchsetzen, mit der die Benachteiligung von Müttern gemindert werden soll, die vor 1992 Kinder bekommen haben.

Ein politisch festgelegter Mindestlohn von 8,50 Euro zeichnet sich entsprechend den SPD-Forderungen ab. Doch der Start und mögliche regionale Ausnahmen sind noch offen. Die CSU will die Einführung einer Pkw-Maut. Die SPD moniert, die CSU habe bislang kein Konzept dafür, dass deutsche Autofahrer nicht zusätzlich belastet werden. Die SPD will ein Aus des Betreuungsgeldes für Eltern, die ihre Kinder daheim erziehen – die CSU stemmt sich dagegen.

In Deutschland geborene Zuwandererkinder müssen sich derzeit noch bis zu ihrem 23. Geburtstag für den deutschen Pass oder die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern entscheiden. Die SPD will diesen Optionszwang abschaffen und Mehrstaatlichkeit ermöglichen. Die Union tut sich äußerst schwer mit dem Doppelpass. Die SPD favorisiert die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften, auch beim Adoptionsrecht – die Union lehnt dies ab. Die Union hat vor der Wahl versprochen, die Steuern nicht zu erhöhen. Das soll eingehalten werden. Daher muss sich die SPD wohl von einer Milliardenoffensive im Bildungsbereich verabschieden, der Ausbau von Ganztagsschulen dürfte zum Beispiel kleiner ausfallen. Die Union ist für verbindliche Obergrenzen beim Ausbau erneuerbarer Energien – die SPD lehnt diese ab.

Und dann stehen natürlich noch die Postenfragen an. Wirklich sicher scheint bisher nur zu sein, dass Angela Merkel in einer Großen Koalition Kanzlerin bleiben wird. Zudem wird es wohl wie üblich eine gewisse Spiegelung der Ressorts geben. Das heißt: Bekommt die eine Seite das Finanzressort, erhält die andere Wirtschaft, dasselbe gilt für die Paare Außen/Verteidigung sowie Innen/Justiz. Vermutlich werden die CDU und die SPD je sechs und die CSU drei Ministerien besetzen können.

Weder über Ministeriumszuschnitte noch deren Besetzung sei entschieden, wurde aus der SPD beteuert. Von SPD-Chef Gabriel wird in der Partei vermutet, dass er für sich gerne die Zuständigkeit für Wirtschaft und Energie als neues Ressort zurechtschnitte. Die Spekulationen um die Zukunft von Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier wurden durch einen „Spiegel“-Bericht angeheizt, wonach der jetzige Fraktionschef als Außenminister „gesetzt“ sei. Aus der SPD verlautet dazu, Steinmeier könne sich beides vorstellen – Fraktionschef bleiben oder wieder Außenminister werden.

Es gibt rechtlich übrigens keinen Zwang für die Parteien, Koalitionsverträge abzuschließen. Innerhalb der Bundesregierung gilt aber das Mehrheitsprinzip, und der Bundeskanzler oder die Kanzlerin bestimmen die Richtlinien der Politik. So hat vor allem der kleinere Koalitionspartner das Bedürfnis, im Kabinett nicht überstimmt zu werden. Deshalb werden vor Regierungsantritt zentrale Vorhaben festgelegt. Die Partner verpflichten sich zudem zur Kooperation im Kabinett und im Parlament und vereinbaren Verfahren für den Konfliktfall. Koalitionsverträge sind gerichtlich nicht einklagbar. Der einseitige Bruch würde aber zum Scheitern der jeweiligen Regierung führen – und mindestens einem der Partner den Ruf der politischen Unzuverlässigkeit einbringen.