Merkel öffnet sich für Kompromisse mit den Sozialdemokraten. Das fällt ihr leicht, weil die Grünen ihre Reserve sind

Berlin. Ihre erste Regierungserklärung nach der Wahl hält die Kanzlerin in einer Messehalle in Hannover. Einen Tag vor der dritten Sondierung mit der SPD, die heute ab 13 Uhr stattfindet, umreißt Angela Merkel vor der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, worum es ihr in den kommenden vier Jahren gehen wird. Das Publikum, traditionell SPD-nah, erlaubt es ihr, Brücken zu den Sozialdemokraten zu bauen, auf denen man sich treffen könnte. Trotzdem vermeidet es Merkel nach dem gescheiterten, jedoch harmonisch verlaufenen Sondierungsgespräch mit den Grünen, die SPD als einzigen Partner zu benennen. Die Nähe zu den Grünen soll nicht sofort wieder aufs Spiel gesetzt und den Sozialdemokraten das Gefühl gegeben werden, alternativlos zu sein.

Merkel nennt vier Punkte, die sie in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen will: 1. Einen stabilen Euro-Raum. 2. Die Energiewende. 3. Die Neuordnung der Finanzbeziehungen der Länder in einer weiteren Föderalismusreform. 4. Die Weiterentwicklung der Demografiestrategie. In der Europapolitik bleibt Merkel zunächst auf bekanntem Kurs. Solide Finanzen im Euro-Raum stellt sie in den Mittelpunkt. Allerdings betont sie die Gleichwertigkeit von ökonomischen und sozialen Standards. Merkel spricht von einer Einheit. Damit diese erhalten bleiben könne, brauche es Wachstum. Merkel tritt nicht als eiserne Sparkanzlerin auf, sondern als Apologetin des Wachstums. Eine erste Brücke zur SPD: Diese hat der Kanzlerin, obwohl sie ihre Schritte in der Euro-Rettung mitgetragen hat, stets vorgeworfen, die Bedeutung des Wachstums zu ignorieren, dafür nichts zu tun, die Länder mit ihrem Spardiktat moralisch zu ruinieren und dabei den Verfall der sozialen Standards in Kauf zu nehmen.

Bei der Energiewende sind Union und SPD schon jetzt gar nicht so weit auseinander. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist bei beiden vorhanden. Merkel will diese Reform „sehr schnell“. Die Probleme beginnen da, wo regionale Interessen berührt werden. Hier fällt der Blick auf Nordrhein-Westfalen. Dort profitieren die Kohlekraftwerke davon, dass sie ihren Strom gegenüber umweltfreundlicheren Gaskraftwerken vorrangig einspeisen dürfen. Eine Veränderung dieser Rangfolge würde die NRW-Industrie belasten. Das macht Kraft nicht so einfach mit. Merkel will einen Umweg gehen, auf den die SPD sich einlassen könnte. Sie will die Zahl der CO2-Zertifikate verknappen, dadurch würde ihr Preis wieder steigen. Schließlich verspricht Merkel, die Ausnahmen von der Ökosteuer zu überprüfen – eine Forderung der SPD. Eine „Konzentration auf diejenigen, die wirklich im internationalen Wettbewerb stehen“, sei nötig.

Merkels Bekenntnis zu einer Neuordnung der Finanzbeziehungen ist wohl Reaktion auf den Verlauf der Sondierungsgespräche. SPD und Grüne machten klar, dass sie die maroden Länderfinanzen mit Bundesgeld sanieren wollen. Dazu sollten Steuererhöhungen dienen, für die die SPD im Wahlkampf eintrat. Mittlerweile jedoch geht man in der Union davon aus, dass die SPD sich von ihnen verabschiedet hat. Als Beleg dafür kursieren Sätze, die Sigmar Gabriel gesagt haben soll: „Ich weiß, sie werden unsere Steuererhöhungen ablehnen. Aber wir haben mit unserem Programm die Wahlen auch sehr durchschnittlich bestritten. Wir werden 2017 versuchen, die Mehrheitsverhältnisse umzukehren, aber bis dahin ist es so.“

Die Grünen wollten dagegen nicht von der Forderung nach frischem Geld abrücken. An diesem Punkt war die Sondierung mit der Union final gescheitert, nicht an der Gleichstellungspolitik, Massentierhaltung oder Europa, nicht an der Flüchtlingspolitik. Bei Letzterer überraschte CSU-Chef Horst Seehofer. „Wir werden die Flüchtlingspolitik ändern“, sagte er nach Teilnehmerangaben. Es bewege ihn das Schicksal der Menschen. Residenzpflicht und Arbeitsverbot müssten überdacht werden. Dies rührte Claudia Roth, eine Bayerin, so sehr, dass sie von Seehofer als „ihrem Ministerpräsidenten“ gesprochen habe.

Wir hätten mit den Grünen gewollt – das ist die Botschaft der Union nach dem Treffen mit den Grünen. Wir hätten gern wollen wollen – so könnte man die Reaktion der Grünen interpretieren. Es war wohl die Angst vor der eigenen Courage, die ihr Nein begründet hat, nicht politische oder menschliche Differenzen. Unüberwindbare Gegensätze habe es nicht gegeben, waren sich die Generalsekretäre Alexander Dobrindt (CSU) und Hermann Gröhe (CDU) einig. Das Klima zwischen den Parteien sei aber nun ein anderes. Darauf ließe sich aufbauen. Claudia Roth spricht gar von einer neuen „politischen Kultur“. Die Grünen sind nun Reserve-Partner für die Union, falls es mit der SPD doch nichts wird.

Auf die Bedürfnisse nach mehr Geld für Länderaufgaben konnte die Union in den Sondierungen bisher nicht adäquat reagieren. Die nun in Aussicht gestellte Föderalismusreform, die auch Bayern fordert, um am Ende weniger Geld in den Länderfinanzausgleich einzahlen zu müssen, eröffnet Spielräume. Die Partner werden die Grundzüge dieser Reform am Donnerstag kaum umreißen können. Auch Merkel bleibt vage, deutet nur an, dass es bei Bildung und Forschung zu einer Grundgesetzänderung kommen müsse. So wird diese Reform wohl eine Art Gefäß sein, in das manch ungeklärte und strittige Frage zwischen Union und SPD hineingelegt werden kann.

Bleibt die Demografie. Dabei geht es auch um die Situation der Arbeitnehmer. Jeder solle seine Chance bekommen, sagt Merkel in Hannover. „Wir müssen im Bereich der Flexibilität der Arbeitswelt darauf achten, dass wir nicht Regelungen finden, dass die Beschäftigung zurückgeht.“ Dies wäre nach Meinung vieler der Fall, wenn man etwa in Ost und West den gleichen Mindestlohn einführt, wie es die SPD fordert. Eine Brücke ist in dieser Frage noch nicht erkennbar. Intern hat sich die Union längst damit abgefunden, dass ein Mindestlohn kommt. Er werde gesetzlich und flächendeckend sein, dürfe allerdings nicht ohne die Tarifpartner ermittelt werden.