Bundespräsident Joachim Gauck fordert, die Bundesrepublik solle mehr Verantwortung übernehmen

Stuttgart. Über das Fest zum Einheitstag wird ja in guter deutscher Manier gern ein bisschen gemeckert. Zum Beispiel darüber, dass die Ausgestaltung der Ländermeile den leisen Verdacht aufkommen lassen könnte, die Deutschen interessierten sich außer fürs Trinken nur noch für eins: fürs (Fr-)Essen. In Stuttgart sollten derlei Abfälligkeiten aber möglichst gar nicht erst in den Sinn kommen. Baden-Württemberg hat sich mächtig ins Zeug gelegt und als Ausrichter der diesjährigen Einheitsfeierlichkeiten in seine Hauptstadt eine Art Mini-Expo gestellt.

Mit dem Festmotto „Zusammen einzigartig“ verabschiedete sich Baden-Württemberg von der Präsidentschaft im Bundesrat. Bei der opulenten Zwei-Tages-Sause unter strahlendem Sonnenhimmel gab es im ersten grün regierten Bundesland sogar eine große „Blaulicht-Meile“ vor dem Landtag. Dort war alles aufgefahren, was Feuerwehrleute, Soldaten, Polizisten oder Kampfmittelräumer so zu bieten haben. Auf Hochglanz polierte Hubschrauber standen neben Robotern, Löschzügen – nur Wasserwerfer waren weit und breit nicht zu sehen. Das hätten die vielen Stuttgart-21-Gegner, die auch im Jahr drei nach dem Baubeginn des Tiefbahnhofs noch protestierend durch die Stadt wuseln, wohl wenig witzig gefunden.

Am 30. September hatte sich jener „schwarze Donnerstag“ zum dritten Mal gejährt, an dem die Polizei mit Wasserwerfern auf S-21-Demonstranten geschossen hatte. Auch bei der Einheitsfeier brüllten die S-21-Gegner ihre „Lügenpack“-Parolen, als Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die Bürgerdelegationen begrüßte. Auch als am Morgen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundestagspräsident Norbert Lammert (beide CDU) zum Gottesdienst in der Stiftskirche eintrafen, hatten sich die S-21-Protestierer aufgebaut. Aber da wurden sie von jenen Zuschauern, die laut applaudierten, übertönt. Kretschmann nimmt die Attacken der Bahnhofsgegner mittlerweile gelassen. Aber Bundespräsident Joachim Gauck ist noch nicht ganz so abgehärtet.

Mit Kretschmann flanierte der Ostdeutsche an der Spitze der Bürgerdelegationen durch die Stadt. Und als immer mehr Menschen „Oben bleiben“ brüllten, bemerkte Gauck spitz: Eigentlich sei der 3. Oktober ja ein Tag, um sich gemeinsam über das Gelungene zu freuen. „Aber natürlich gibt es auch immer Leute, die auf das Nichterreichte verweisen.“ Auch in seiner offiziellen Festrede war Gauck, der erstmals als Bundespräsident beim Tag der Deutschen Einheit sprach, nachdenklich, offen und kritisch. Die digitale Revolution werde die Gesellschaft und ihr Menschenbild verändern, warnte er. Freiwillig oder blauäugig trügen viele Menschen Persönliches zu Markte, ohne zu ahnen, wie sehr das schaden könne. Die Datenausspähungen durch die USA nannte er „unvorstellbar“, erst Berichte darüber hätten das Risiko der digitalen Welt bewusst gemacht. Der Bundespräsident forderte, dass der Datenschutz für den Erhalt der Privatsphäre ebenso wichtig werde wie der Umweltschutz für den Erhalt der Lebensgrundlagen.

Von Deutschland verlangte er zudem, sich stärker zu einer gewachsenen Verantwortung an den Krisenherden dieser Welt zu bekennen. „Ich denke mir unser Land als Nation, die Ja sagt zu sich selbst.“ Ob im Nahen Osten oder am südlichen Mittelmeer, als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt müsse sich die Bundesrepublik endlich stärker international engagieren.

Im Ausland, wie jüngst bei seinem Frankreich-Besuch, werde er gefragt, ob Deutschland seine Vergangenheit als Ausrede nutze, um Problemen auszuweichen. Niemand solle sich der Illusion hingeben, dass Deutschland verschont bleibe von politischen, wirtschaftlichen, ökologischen oder militärischen Konflikten, wenn es sich heraushalte. „Deutschland ist keine Insel“, mahnte Gauck. Er halte zwar nichts davon, sich großzumachen, um andere zu bevormunden. „Ich mag mir aber genau so wenig vorstellen, dass Deutschland sich kleinmacht, um Risiken und Solidarität zu umgehen.“

Die Kanzlerin hielt wie üblich auf dem Fest zur Einheit keine Rede. Am Rande meldete sie sich aber doch zu Wort, und ihre noch vor der Rede von Gauck geäußerte Bemerkung klang fast, als wolle sie dem Bundespräsidenten schon mal vorauseilend recht geben: Sie sehe in der deutschen Einheit auch einen Auftrag für ihre künftige Regierungsarbeit. Sie sagte: „Wir haben viel Unterstützung erfahren, deshalb sollten wir diese Unterstützung auch zurückgeben in der Arbeit für ein einheitliches Europa, in der Arbeit für eine gerechtere Welt.“

Aber auch innerhalb von Deutschland gibt es nach Ansicht von Merkel 23 Jahre nach dem Zusammenwachsen noch eine Menge zu tun, vor allem, weil es in den neuen Ländern immer noch viel mehr Arbeitslose und deutlich geringere Gehälter gebe. Auch andere sind mit dem Zusammenwachsen Deutschlands nicht ganz zufrieden, allerdings aus anderen Gründen. Linksgerichtete Gruppen hatten Demonstrationen angekündigt. Und am Vorabend der Festeröffnung hatten 20 Vermummte ein Jugendzentrum in der Stadtmitte überrannt, um ein gutes Dutzend Poster der Ausstellung „Die heile Welt der Diktatur? Herrschaft und Alltag in der DDR“ zu klauen. Die Extremisten hinterließen einen Zettel: Das sei eine „Protestaktion zum Tag der Deutschen Einheit“.