Vorstand der Grünen soll im November neu gewählt werden. Streit über die Ausrichtung der Partei hat begonnen

Berlin. Am Tag danach stehen sie schon wieder am Ort ihrer Niederlage. Die Konzerthalle, vor Wochen für die erhoffte Wahlparty gebucht, wirkt am Montagmittag noch viel finsterer als am vermasselten Sonntagabend, die Helfer haben die Stühle schon gestapelt und eingepackt, nur noch ein paar Stehtische sind übrig. Und einige gnadenlose Scheinwerfer, die das mürrische Trüppchen oben auf der Bühne noch blasser aussehen lassen.

Jürgen Trittin hält die Arme vor der Brust verschränkt. Er bringt es auf den Punkt: Mit 8,4 Prozent sind die Grünen bei der Bundestagswahl wieder auf ihr Niveau von 2002 und 2005 abgerutscht. Einen Stimmenverlust von 2,3 Punkten im Vergleich zum Rekordwert von 2009, als die Grünen noch 10,7 Prozent geholt hatten. Aber der gefühlte Absturz ist noch viel tiefer – gemessen an den Umfragen, die die Grünen bis vor wenigen Wochen noch bei 13 sich sogar an Werte weit über der 20-Prozent-Marke gewöhnt.

Fünf Stunden tagt der Grünen-Vorstand, erst nur die sechs Mitglieder um die Parteivorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir, dann zusammen mit dem Parteirat. Roth verkündet anschließend, dass der gesamte Vorstand nur noch bis zum nächsten Bundesparteitag, höchstens bis Ende November, amtiert und dann komplett neu gewählt werden soll. Das ist ein geschicktes Manöver, mit vielen Nebeneffekten. Denn mit dem Verzicht der Parteispitze, zu der auch Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke gehört, geraten auch die gescheiterten Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Trittin unter Zugzwang. Ein bewusst aufgebauter Druck, heißt es von Parteifreunden. Vor allem Trittin soll es damit nicht allzu leicht gemacht werden, sich trotz seines unglücklichen Steuererhöhungs-Wahlkampfs doch noch an der Spitze der Bundestagsfraktion zu halten.

Zugleich schließt der Rückzug des Vorstands nicht aus, dass Einzelne aus der bisherigen Führungsriege sich auch für die Neuaufstellung bewerben. Özdemir wagt sich als Erster aus der Deckung: „Ich sehe meine Rolle weiter an der Spitze der Partei“, sagt er. Damit sei gemäß der Grünen-Satzung ausgeschlossen, zugleich auch den Fraktionsvorsitz zu übernehmen. Die Parteiführung gilt allerdings nicht als das echte Machtzentrum der Grünen, die Schaltstelle gerade als Oppositionspartei liegt in der Fraktionsspitze. Und wie die in Zukunft aussieht, ist ungewiss. Klar ist nur, dass Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck wegen seiner Verstrickung in die Pädophiliedebatte hinwirft.

Fraktionschef Trittin hält sich noch bedeckt und will die Sitzung der Abgeordneten am Dienstag abwarten. Doch viele Parteifreunde haben ihn bereits als Hauptschuldigen ausgemacht. Erste direkte Schuldzuweisungen treffen den Spitzenkandidaten seit dem frühen Morgen: „Trittin hat sich zulasten der Grünen profiliert, hat die Finanzpolitik im Wahlkampf in den Vordergrund geschoben, weil er unbedingt Finanzminister werden wollte“, sagt der Grünen-Europaabgeordnete Werner Schulz der „Bild“-Zeitung. Auch die Kofraktionsvorsitzende Renate Künast übt Kritik: „Wir haben zum Beispiel die zentrale politische Aufgabe einer Energiewende, die wir am besten können, nicht nach vorne gestellt.“ Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann geht Trittin indirekt an: „Wir haben den Eindruck erweckt, wir seien eine Verbotspartei, wir haben bei den Steuern Maß und Mitte verlassen. Da entstand heftiges Misstrauen uns gegenüber“, sagte er. Hamburgs Grünen-Chefin Katharina Fegebank hält die Erklärungen Trittins zum Debakel der Partei für nicht ausreichend. „Ich habe Trittins Statement gehört. Und bin von seinen Erklärungsversuchen nicht überzeugt“, sagte Fegebank. Eine schwarz-grüne Koalition lehnt sie ab.

Die wäre aber die letzte Chance, Trittins politische Zukunft noch zu retten. Doch obwohl der 59-Jährige für viele in der Union als verlässlicher Politiker gilt: Trittin hat zwar den erforderlichen Machtwillen, er ist aber nach wie vor für die meisten Unionsleute eine Reizfigur. Vor allem für die erstarkte CSU. Und erst recht nach den Enthüllungen über seine Verantwortung für ein Parteipapier aus den 80er-Jahren, das pädophile Positionen unterstützte. Fest steht: Wenn die Union einlädt, werden die vier Grünen auf der Bühne auch Sondierungsgespräche führen. Wie Trittin hält sich auch Göring- Eckardt im anstehenden Postengeschacher zunächst zurück. Doch dann löst die glücklose Spitzenkandidatin mit wenigen Worten die erste Runde eines Flügelstreits über die künftige Grundausrichtung und das Profil der Grünen aus: „Der Platz der Freiheits- und Bürgerrechtspartei ist jetzt frei“, sagt Göring-Eckardt ganz ruhig und selbstverständlich. Sie denkt an die historische Wahlniederlage der FDP, die erstmals seit mehr als 60 Jahren nicht mehr im Bundestag vertreten sein wird. „Diesen Platz wollen wir besetzen.“

Zwei Meter weiter quittiert Roth diese Sätze mit demonstrativem Kopfschütteln. So sieht sie die Zukunft der Grünen nach der Niederlage nicht, nicht als FDP mit ökologischem Gewissen. Doch Özdemir springt Göring- Eckardt bei: Er erinnert daran, dass die Grünen vor einigen Jahren die frühere FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher für die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten nominiert hatten. „Da gibt es ein Erbe des politischen Liberalismus, das haben wir bereits zum Teil angetreten“, sagt Realo Özdemir. „Das ist aber lange her“, raunzt Roth dazwischen. „Willst du mich auf mein Alter hinweisen?“, gibt Özdemir spitz zurück. Die Grünen seien gut beraten, den politischen Liberalismus stärker bei sich zu verankern, betont er. Und auch der linke Trittin findet plötzlich Verbindungspunkte zum Liberalismus: So könne das Eintreten der Grünen gegen Monopole auf dem Energiemarkt durchaus als wirtschaftsliberal gewertet werden, sagt er. Ohne rot zu werden.