Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin über Anfeindungen gegen ihn persönlich, über Energiewende, Steuererhöhungen – und Müsli am Morgen

Hamburg. Kurz vor der Wahl läuft es nicht rund für die Grünen und für ihn selbst. In Umfragen ist die Partei abgestürzt. Aber Jürgen Trittin, der Spitzenkandidat und Fraktionschef, sagt: Die mäßigen Umfragewerte seien nicht ungewöhnliche. Und in der Pädophilie-Debatte wirft er seinen Kritikern aus der Union Doppelmoral vor.

Hamburger Abendblatt:

In einer der jüngsten Umfragen stehen die Grünen nur noch bei neun Prozent. Wie konnte das passieren?

Jürgen Trittin:

Das ist nichts Ungewöhnliches. Wir stehen am Anfang eines Wahlkampfes immer super da, dann verlieren wir Stimmen in den Umfragen. Am Ende reicht es für ein gutes Ergebnis. Das kenne ich aus 20 Jahren, in denen ich Wahlkampf für die Grünen mache.

Die Umfragen sagen: Entweder es wird Schwarz-Gelb oder eine Große Koalition. Wie können die Grünen doch noch regieren?

Trittin:

Ich glaube nach wie vor an einen rot-grünen Wahlsieg, und dafür kämpfe ich. Vor allem in der Schlussmobilisierung können wir viele unentschlossene Wähler noch von grünen Inhalten überzeugen. Und die Bayern-Wahl hat gezeigt: Eine schwarz-gelbe Mehrheit wird immer wackeliger.

Unter welchen Bedingungen würden Sie eine rot-rot-grüne Koalition eingehen?

Trittin:

Ich sage unseren Wählern: Sie sollen nicht auf das geheuchelte Koalitionsangebot der Linkspartei reinfallen. Keine deutsche Regierung mit den Grünen kann zulassen, was die Linkspartei in ihrem Wahlprogramm fordert. Im Gegensatz zu den Linken halten wir es für richtig, Griechenland mit Hilfspaketen zu unterstützen. Wir werden den Euro und Europa stabilisieren. Und keine Regierung mit grüner Beteiligung wird den Abzug aller deutschen Soldaten aus Uno-Missionen beschließen, wie es die Linken fordern. Die Grünen wollen die Vereinten Nationen in ihrer Friedensfähigkeit stärken.

Wie SPD und Linke wollen die Grünen höhere Steuern. War es ein Fehler, eine Steuer-Debatte zu starten?

Trittin:

Die Grünen sind keine Partei der hohen Steuern. Das ist die Propaganda von Union und FDP. Durch unser Steuermodell werden 90 Prozent der Deutschen entlastet.

Offensichtlich glauben die Grünen-Wähler das nicht. Sie fallen in den Umfragen.

Trittin:

Die glauben das und die wollen das auch von uns. 77 Prozent der Deutschen und 86 Prozent der Grünen-Wählerinnen und -Wähler finden moderate Steuererhöhungen auf hohe Einkommen und Vermögen richtig. Damit wir wichtige Vorhaben wie soziale Projekte, Bildung, bessere Infrastruktur und Schuldenabbau vorantreiben können.

Sie sagen immer, die Erhöhungen träfen nur zehn Prozent der Steuerzahler. Tatsächlich trifft eine geplante höhere Steuer auf Grundstücke nicht nur Hausbesitzer, sondern auch Mieter. Dasselbe gilt für die Anpassungen bei der Mehrwertsteuer. Ist das grüne Gerechtigkeit?

Trittin:

Das ist gerecht. Die Grünen wollen die Grundsteuer nicht erhöhen, sondern den Kommunen das Recht erhalten, diese Steuer auf Grundstücke selbst zu gestalten. Und wir wollen die Grundsteuer sozial gerechter gestalten. In der Mönckebergstraße könnte Hamburg zum Beispiel künftig eine höhere Grundsteuer erzielen, weil dort kaum noch Mieter leben. Und in einem Saga-Bau außerhalb des Zentrums die Steuern senken. Das ist gerecht.

In Vierteln wie der Sternschanze gibt es McDonald’s und Modeketten, aber auch den türkischen Gemüseladen. Da wird es schwierig mit Ihrer Reform, weil Arm und Reich noch zusammenleben.

Trittin:

Genau deshalb wollen wir, dass die Entscheidung darüber in Hamburg fallen kann. Die Kommunen können doch viel besser bewerten als ein Bundespolitiker, wo welche Grundsteuern gerecht sind.

Bei der Mehrwertsteuer wollen Sie Ermäßigungen für Hotels, Skilifte und Fast-Food-Restaurants abschaffen. Der Cheeseburger wird teurer. Das trifft vor allem den Normalbürger.

Trittin:

Diesen Unfug der ungerechtfertigten Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer wollen wir abschaffen. Das bringt uns drei Milliarden Euro Mehreinnahmen. Und der Cheeseburger wird nicht teurer. Die Differenz zwischen mitgenommenem und vor Ort verzehrtem Burger kassiert ohnehin bereits die Fast-Food-Kette.

Kernthema der Grünen ist die Energiewende. Umweltminister Altmaier von der CDU erwartet für dieses Jahr einen Grünstromanteil von 25 Prozent. Bis 2020 werde der Anteil von Sonne, Wasser und Wind auf bis zu 40 Prozent steigen. Klappt doch alles ohne die Grünen, oder?

Trittin:

der Ausbau der Erneuerbaren geht voran nicht wegen, sondern trotz Peter Altmaier. Die Wahl entscheidet: Wird die Energiewende abgewürgt oder zum Erfolg geführt? Die Kanzlerin und die FDP wollen einen Ausbaustopp der erneuerbaren Energien durchsetzen. Mit Schwarz-Gelb wird die Energiewende eine Rolle rückwärts. FDP und Union wollen am Ende wieder eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in Deutschland, und der deutsche EU-Energiekommissar Günther Oettinger will europäische Steuersubventionen für AKW ermöglichen. Schwarz-Gelb spielt ein fossil-nukleares Pingpong zwischen Berlin und Brüssel.

Wie wollen Sie den Strompreis niedrig halten?

Trittin:

Wir wollen durch den Abbau von Subventionen bei der EEG- oder Netzumlage für Mode-Unternehmen wie C&A oder Hühnerfleischbetriebe den Preis so gestalten, dass am Ende jeder Durchschnittshaushalt etwa 50 Euro pro Jahr weniger für Strom zahlt. Das ist mehr, als bei Altmaiers Strompreisbremse herausspränge. Wir wollen durch den Abbau ungerechtfertigter Preisvergünstigungen bei Betrieben etwa vier Milliarden Euro Kosten sparen. Das Geld erhält der Bürger zurück.

Auch die Debatte um Pädophilie hat den Grünen geschadet. Sie sprechen seit Neuestem von einem Fehler. Warum musste erst ein Forscher auf Ihre Rolle bei der Pädophilie-Debatte hinweisen?

Trittin:

Wir haben ihn damit beauftragt. Und ich wiederhole mich: Schon als wir im Mai den unabhängigen Wissenschaftler Franz Walter mit der Untersuchung der Vorfälle beauftragt haben, habe ich das damalige Programm der Grünen als Fehler bezeichnet.

Damals sprachen Sie von „Fehlbeschlüssen“ in der Vergangenheit. Heute geht es um Ihre persönlichen Fehler.

Trittin:

Ich war presserechtlich verantwortlich für ein Programm in Göttingen, in dem wörtlich das stand, was auch im Bundesprogramm der Grünen stand. Das war ein Fehlbeschluss, der – so Prof. Walter – 1989 korrigiert wurde.

Laut dem Kommunalwahlprogramm der Göttinger Grünen sollte Sex mit Kindern straffrei gestellt werden. Sie kannten also die Pläne, Kindesmissbrauch zu legalisieren, und stemmten sich nicht dagegen?

Trittin:

Wir haben diese Fehler vor fast einem Vierteljahrhundert erkannt und korrigiert. Und wir klären das komplett auf, ohne Rücksicht auf Wahltermine und Personen. Und wir haben in unserer politischen Geschichte bewiesen, dass wir eine andere Politik gemacht haben. Wir Grüne mussten 14 Jahre im Bundestag dafür kämpfen, dass Vergewaltigungen in der Ehe endlich unter Strafe gestellt werden, 17 Jahre dafür, dass Kinder nicht geschlagen werden dürfen. Alles gegen die Union und gegen deren Politiker wie zum Beispiel Gerda Hasselfeldt und Peter Ramsauer.

Jetzt sind wir wieder bei den anderen.

Trittin:

Wir Grünen benennen unsere Fehler und klären unsere Geschichte auf. Wir erwarten aber auch, dass zur Kenntnis genommen wird, dass wir diese Fehler vor einem Vierteljahrhundert korrigiert haben.

Was macht Sie besonders fassungslos über diese grüne Vergangenheit?

Trittin:

Es erschüttert mich, dass man damals geglaubt hat, es könnte so etwas geben wie eine vernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen.

Gibt es ein Wahlergebnis am Sonntag, bei dem Sie von Ihrem Posten als Fraktionschef zurücktreten würden?

Trittin:

Ich setze darauf, dass wir eine schwarz-gelbe Mehrheit verhindern. Und darauf, dass wir mehr Prozente der Stimmen bekommen als bei der letzten Wahl 2009.

Damals waren es fast elf Prozent. Was werden Sie am Montagmorgen machen?

Trittin:

Frühstücken, wie an jedem Tag. Müsli, schließlich bin ich ein Grüner.