Im Zug zur Macht: Aydan Özoğuz, SPD. Die Spitzenkandidatin über Migration, Integration und eine Familie mit zwei Top-Politikern

Ein aufgespannter Regenschirm in der rechten Hand, ein Pappbecher Kaffee in der linken, die Arbeit für die Rückfahrt im Rucksack verstaut. Es ist 7 Uhr morgens, und Aydan Özoğuz wartet an Gleis 8 des Hauptbahnhofs. Es kommt wie viel zu oft, ICE 1513 fährt ohne den Wagen mit den reservierten Plätzen. So landet sie im Kinderabteil des „Zugs zur Macht“, der Özoğuz heute zum Bundesvorstand der SPD bringt. Der Hosenanzug hanseatischblau, die braunen, leicht gelockten Haare offen – Aydan Özoğuz entspricht so gar nicht dem Bild, das viele Hamburger von einer gläubigen Muslima haben dürften.

„Ich sehe mich nicht vordergründig als Deutsche oder als Türkin, sondern als Hamburgerin. Und ich habe eine ganze Weile gebraucht, zu merken, wie deutsch diese Einstellung ist. Deutsche definieren und identifizieren sich viel stärker über die Region, in der sie aufwachsen, als anderswo. Früher habe ich immer gesagt, ich bin hamburgische Türkin. Seit ich eingebürgert bin, sehe ich mich eher als türkischstämmige Hamburgerin.“

Aydan Özoğuz, die hier geborene muslimische Frau, ist verheiratet mit Innensenator Michael Neumann, einem gläubigen Katholiken. Das Paar hat eine Tochter, die konfessionslos bleiben soll, bis sie zu einer eigenen, bewussten Entscheidung fähig ist.

Zwei Berufspolitiker mit vollen Terminkalendern und wenig Freizeit, ein Mädchen am Rande der Pubertät – wie soll das nur klappen?, dürften sich selbst wohlmeinende Parteifreunde skeptisch fragen, wenn sie über Ihre Tochter Hanna sprechen.

Das Leben, das wir führen, würde nicht funktionieren ohne meine Schwiegermutter und sehr viele befreundete Mütter. Sie sind da, wenn wir es nicht sein können. Mein Mann und ich haben mit unserer Tochter erarbeitet, was ihr das Wichtigste ist. Und das ist, dass kein Fremder sie ins Bett bringt, also beispielsweise die Tagesmutter. Wir müssen uns als Eltern deshalb auch immer wieder disziplinieren.

Wie soll das in Sitzungswochen des Bundestages funktionieren, wenn Sie in Berlin sind?

Zum einen nimmt sich mein Mann an Arbeitstagen Zeit für unsere Tochter. Sie wird in seinem Kalender als Termin eingetragen, dann hat er ,Hanna-Dienst’. Ich fahre auch in Sitzungswochen nach Hause, sofern dies vereinbar ist. Denn ich kann doch unmöglich meiner Tochter sonntagabends sagen ,Tschüs, bis Freitag’. Ich versuche zum Beispiel nach Hause zu fahren, wenn meine Tochter Arbeiten schreibt oder Tests, so dass ich trotz Sitzungswoche mit ihr üben kann.

Nur hinhauen kann dieses fragile Konstrukt aus Heimfahrten, Hanna-Dienst für den Vater und Einsatz für die Schwiegermutter nicht immer. Neulich stürzte das Kind von einem Gerüst und brach sich den Arm. Mutter? Berlin. Vater? Termine außerhalb Hamburgs. „Dass in solchen Situationen weder Vater noch Mutter greifbar ist, ist furchtbar und darf nie mehr passieren.“ Die Konsequenz: Jetzt wird „ein Elternteil immer in Hamburg sein“.

Aydan Özoğuz ist stolz, ohne überheblich zu wirken; selbstbewusst, ohne zu übertreiben. Und so trägt sie auch ihren Geburtsnamen trotz der „Sippenhaft“, in die sie sich wegen ihrer Brüder immer wieder genommen fühlt, trotz der Schwierigkeit, ihn zu lesen und dann richtig auszusprechen („Ösus“), trotz der Tatsache, dass sie es als „Frau Neumann“ in der Politik hätte einfacher haben können.

Als Innensenator ist Herr Neumann zuständig für den Verfassungsschutz in Hamburg. Der Inlandsgeheimdienst des Bundes hatte lange Zeit seine Schwager im Visier. Yavuz und Gürhan Özoğuz, zwei promovierte Ingenieure, betreiben das dem Iran nahestehende Internetportal „Muslimmarkt“. Geboten werden fundamentalistische Inhalte. So widmet sich eine Seite palästinensischen Selbstmordattentätern. Diese Bezeichnung lehnen die Betreiber ab, sie stelle den Aspekt der Selbsttötung in den Vordergrund und vernachlässige den Zweck des „Widerstands“. Gefragt nach ihren Brüdern und dem Verhältnis zu ihnen, wird Aydan Özoğuz seit sie Politik macht. Sie wolle nicht in Sippenhaft genommen werden, hatte sich die SPD-Politikerin mehr als einmal gegen das Thema gewehrt.

Ist die Frage etwa nicht berechtigt?

Ich möchte danach beurteilt werden, was ich tue. Und nicht ständig hören, ‚jetzt haben Ihre Brüder aber wieder dieses oder jenes gesagt’. Das kann ich ja schlecht verhindern.

Auf Distanz zur radikalen Einstellung ihrer Brüder war sie schon im Oktober 2011, kurz vor ihrer Wahl zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden gegangen. „Es sind meine Brüder, ich werde meine Familie nicht verleugnen. Aber ich stimme mit den politischen Standpunkten meiner Brüder überhaupt nicht überein“, sagte Aydan Özoğuz damals. Damals. Das war in der Hochphase der Sarrazin-Debatte. Deutschland werde auf „natürlichem Wege durchschnittlich dümmer“, Zuwanderer aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika wiesen weniger Bildung auf als Migranten aus anderen Ländern, fabulierte der Ex-Bundesbank-Vorstand und Berliner Finanzsenator einmal. Was folgte, war Thilo Sarrazins (gescheiterter) Rauswurf aus der SPD und Özoğuz’ Aufstieg zur Vize im Bundesvorstand der Partei. Eigentlich ein Posten für machtbesessene Politiker mit Ambitionen. In diese Kategorie fällt die zierliche und zunächst unscheinbar wirkende Frau nicht wirklich. Und so begleitete ein Vorwurf ihren Aufstieg: Aydan Özoğuz sei Sigmar Gabriels Frau für die Migrantenquote, die Türkin zum Vorzeigen.

Sind Sie Sarrazin dankbar, dass er mit Äußerungen wie diesen und seinen Publikationen Ihren Aufstieg in den Bundesvorstand und als Integrationsbeauftragte der SPD-Fraktion beförderte? (Lacht zunächst, was sie gerne tut. Doch schnell wird sie wieder sachlich.)

Ganz sicher nicht. Die Debatte, die dadurch losging, war ganz schrecklich. Alle, die wie ich in der 70er- und 80er-Jahren hier groß geworden sind, haben sich so viele böse Sprüche anhören müssen und sind mit Ausgrenzungsgedanken konfrontiert worden. Wir brauchen keinen Sarrazin um zu erkennen, dass wir einiges tun müssen.

Hat Sarrazin komplett Unrecht? Gibt’s keine gravierenden Mängel bei der Integration von Migranten?

Wir nehmen das Wort Integration oft in den Mund, aber vieles was wir tun ist halbherzig. Zum Beispiel Sprachkurse, die gibt es erst vermehrt seit dem Zuwanderungsgesetz. Und noch immer sind es viel zu wenige. Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft. Das ist heute für viele unmöglich, und das müssen wir ändern. Wir müssen uns zur doppelten Staatsbürgerschaft bekennen, die in vielen Ländern normal ist.

Neulich erst habe ihr eine türkische Frau unter Tränen erzählt, ihr Kind sei jetzt in der dritten Klasse und verstehe nicht, was es lernen solle. „Sie konnte kaum Deutsch, hatte keine Vorbildung. Auf einen solchen Fall will ich gern öffentlich hinweisen. ,Schaut her, hier ist eine Frau, die will, dass ihr Kind lernt, versteht, in der Schule mitkommt.’“ Mit Vehemenz streitet Aydan Özoğuz deshalb gegen das von der CDU/FDP-Koalition beschlossene Betreuungsgeld. „Wir haben so viele Jahre dafür gekämpft, dass Eltern ihre Kinder spätestens mit drei Jahren in die Kita bringen können, damit sie eine bessere Chance haben, in der Schule von Anfang an mitzukommen. Das Betreuungsgeld ist aber ein völlig rückwärtsgewandtes Signal.“

Olaf Scholz überredete die damals noch parteilose Frau 2001 zur Kandidatur für die Bürgerschaft. Sie hatte zuvor Anglistik, Spanisch und Betriebswirtschaftslehre studiert und leitete gerade bei der Körber-Stiftung als wissenschaftliche Mitarbeiterin Integrationsprojekte. Er war das erste Mal Landesvorsitzender der SPD und die stand vor einem politischen Debakel. Die Wahl ging krachend an CDU, FDP und Schill verloren, Aydan Özoğuz landete als Neu-Abgeordnete in der Opposition. Da ist sie bis heute, nur halt im Bundestag.

Ihren Einzug in den Reichstag verdankt sie übrigens der CDU. Die rang der SPD 2009 drei der sechs Direktmandate ab, und so zog auch die Bewerberin auf Listenplatz 2 für die SPD in den Bundestag – Aydan Özoğuz. Jetzt kandidiert sie auf Platz 1 und in ihrer politischen Heimat Wandsbek direkt. Vermutlich wird es ein enges Rennen mit dem langjährigen CDU-Fraktionschef in der Bürgerschaft, Frank Schira, um den Wahlkreis und die Chance, in Berlin machtvoll Politik zu gestalten. Ihre Einschränkung: „Ich denke, die Macht von Bundestagsabgeordneten wird häufig überschätzt. Allein kann niemand etwas umsetzen – schon gar nicht in der Opposition. Dennoch kann man auch auf Bundesebene Themen setzen und für die Umsetzung werben.“

Themen setzen. Als stellvertretendes Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss arbeitete sie in der zu Ende gehenden Legislaturperiode mit daran, Versagen aufzuarbeiten. Der NSU ermordete zwischen 2000 und 2006 acht türkischstämmige und einen griechischen Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Ins Visier der „Soko Bosporus“, der Landespolizeien und Geheimdienste waren stattdessen die Opfer selbst geraten. Waren sie Kriminelle? Ermordet von anderen Drogenhändlern? Der Polizei war wohl nichts zu peinlich, selbst Wahrsager wurden befragt. Der Terror des NSU setzt ihr, der türkischstämmigen Frau, besonders zu. Dass Menschen aus Rassismus ermordet wurden, dass Behörden kollektiv versagten, dass ihr Name auf einer Todesliste stand, lässt sie nicht ruhen. Das lässt sie vermuten, spekulieren, attackieren. Dass sie sich damit angreifbar macht, scheint ihr egal.

Haben Sie sich dieses kollektive Versagen der Polizeiarbeit vorstellen können?

Es gab nur wenige in den Sicherheitsbehörden, die richtig gearbeitet haben, eine solche Mordserie hat offensichtlich niemand für möglich gehalten. Es ist kaum zu glauben, dass die drei Haupttäter Einzelgänger ohne Hintermänner gewesen sein sollen. Noch heute können wir die wesentlichen Fragen nicht beantworten. Zum Beispiel, wer die Opfer ausgesucht hat. Hat nicht doch ein Mitarbeiter irgendeines Amtes oder einer Behörde den Mördern geholfen? Wir haben darauf keine Hinweise gefunden, aber 100-prozentig ausschließen können wir es auch nicht.

Özoğuz spricht von einer extrem erschreckenden Kette von Fehlern, die gemacht wurden. „Ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, das Vertrauen schnell wieder herzustellen darin, dass Ermittlungsarbeit vernünftig und vorurteilsfrei funktioniert. Mit einzelnen diskutierten Maßnahmen, wie zum Beispiel der Frage, ob wir den Verfassungsschutz abschaffen müssen, wenn er Fehler macht, ist es nicht getan.“

Hat der Rechtsstaat an Vertrauen verloren durch Mordserie und Ermittlungspannen?

Ganz sicher. Je länger die Aufarbeitung dauert, desto klarer ist: Es hätte jeden treffen können. Hauptsächlich türkischstämmige Menschen. Und die Opferfamilien wurden jeweils über Jahre verdächtigt und kriminalisiert. In Gesprächen mit den Angehörigen habe ich gemerkt, wie isoliert sie waren, was es beutetet, wenn sich Menschen auch aus dem näheren Umfeld abwenden. Nach dem Motto ,die verheimlichen uns doch irgendetwas’.

„Es ist grausam. Rechtsradikale Übergriffe sind auch heute keine Seltenheit“, sagt diese Frau der leisen Töne, während der Zug im Berliner Hauptbahnhof einrollt.

Mit diesem Beitrag endet die Abendblattserie „Im Zug zur Macht“ über die Spitzenkandidaten der Hamburger Parteien.