Die Kanzlerin wirbt in der Fischauktionshalle mit Marktwirtschaft und Eigenverantwortung, der Herausforderer versucht es auf dem Domplatz noch einmal mit Klartext

Hamburg. Eines muss man der CDU ja lassen. Wenn es bei der Bundestagswahl am Sonntag darum ginge, welche Partei ihre Führungsfigur am besten als das inszenieren kann, was sie nicht ist, wäre den Christdemokraten die absolute Mehrheit wohl gewiss. 2009 hatten sie ihre Kanzlerin zu dröhnenden Samba-Rhythmen auf die Bühnen geschickt, und am Mittwochabend in der Fischauktionshalle wurden die mehr als 4000 Unionsanhänger von einer Liveband mit Songs wie „Die Angie muss mal kurz die Welt retten“ und „Satisfaction“ von den Stones auf die Physikerin aus der Uckermark eingestimmt. Dass sich ein Gast auch noch Roland Kaisers „Schachmatt durch die Dame im Spiel“ wünschte, machte die Sache nicht besser. Aber etwas passender.

Denn tatsächlich ist es vor allem Angela Merkel höchstpersönlich, die der CDU konstant hohe Umfragewerte beschert und die Gegner reihenweise zur Verzweiflung treibt. Und dabei hat sie den Zirkus, den ihre Partei um sie veranstaltet, gar nicht nötig. So besinnt sie sich auch beim Wahlkampfhöhepunkt der Hamburger CDU nach dem Einmarsch zu Uffta-Uffta-Bässen und dem Austausch der obligatorischen Nettigkeiten („Ich bin immer wieder gern in Hamburg“) auf ihre eigentliche Stärke: eine klare, sachliche Rede, in der sie – entgegen dem Vorwurf ihrer Gegner, gar keine Meinungen zu haben – deutlich die Unterschiede zwischen ihren Zielen und denen der Opposition herausstreicht.

So wirbt die Kanzlerin für ihr Modell eines branchenspezifischen Mindestlohns und lehnt die Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn ab. „Soll die Politik jetzt auch noch die Löhne festlegen?“, fragt sie rhetorisch. Überhaupt wolle sie sich nicht in marktwirtschaftliche Mechanismen einmischen. „Arbeitsplätze entstehen, wenn es Menschen gibt, die wollen etwas unternehmen, die nennen wir dann Unternehmer“, holpert sie leicht, um dann zu betonen, dass diese Unternehmer und ihre Belegschaft mehr von Löhnen verstünden als die Politik. Die Steuern erhöhen wolle sie daher natürlich auch nicht – ihre Herausforderer, die dieses oder jenes anders machen wollen, erwähnt sie mit keinem Wort.

Zum Beispiel die Grünen, die die Idee ins Spiel gebracht hatten, die Deutschen könnten sich doch einen Tag in der Woche vegetarisch ernähren – für Merkel eine wunderbare Vorlage. „Ich glaube, wir sollten den Menschen nicht sagen, wann sie Fleisch essen sollten und wann nicht.“ In ihrem Pfarrhaus daheim in Mecklenburg-Vorpommern habe es freitags zwar auch kein Fleisch gegeben, aber: „Ich traue den Menschen zu, dass sie das selbst entscheiden können.“ Donnernder Applaus in der Fischauktionshalle.

Es folgen Plädoyers für den Euro, der Frieden und Wohlstand sichere, für mehr Forschung und natürlich für eine Teilnahme an der Wahl. Sie habe ja 35 Jahre in einem Land gelebt, „in dem man zwischen überhaupt nix“ wählen durfte, deshalb finde sie Wahlen super, plaudert Merkel. Das hätte einen Tusch verdient gehabt, doch stattdessen gibt es nur Applaus.

Unterdessen mobilisierte die SPD alle Kräfte auf dem Domplatz am Speersort, wo Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mit seiner 20. „Klartext-Open-Air“-Tour zum Wahlkampffinale noch einmal für sich und die Sozialdemokratie warb. Heiter bis wolkig traf dabei nur auf das Wetter, jedoch nicht auf die Stimmung der rund 4000 Zuschauer zu, die an den roten, sternförmig zur kleinen runden Bühne aufgestellten Tischen Platz nahmen. Bei Blasmusik, mit Bier und Kaffee stimmten sich die Besucher unter freiem Himmel erwartungsfroh auf den Auftritt von Peer Steinbrück ein, die Smartphones zum Fotografieren griffbereit neben sich.

Zu denen, die Steinbrücks Auftritt entgegenfiebern, gehört Julia Steif aus Bochum. Ihn einmal live zu erleben ist für die Bankkauffrau, die seit ihrem 16. Lebensjahr SPD-Anhängerin ist, ein besonderes Erlebnis. Bewunderung schwingt in ihrer Stimme mit, wenn sie über den Kanzlerkandidaten spricht. Seine Angriffslust, Zielstrebigkeit und sein Charisma faszinieren sie. „Das ist ein Mann, der etwas nach vorne bringt.“ Ihr Mann, ein gebürtiger Hamburger, sieht das anders. Knuth Meyer-Soltau ist nur mitgekommen, um seiner Liebsten einen Gefallen zu tun. Der 48-Jährige wählt AfD, die Alternative für Deutschland. Neben Neugierigen und noch Unentschlossenen scheinen es aber vor allem überzeugte Sozialdemokraten, Fans von Steinbrück, zu sein, die auf dem Domplatz zusammenkommen, mit „Meine Peerle!“-Plakaten wedeln und trotz der herbstlichen Temperaturen gut gelaunt auf den 66-Jährigen warten.

Unter großem Jubel betritt Peer Steinbrück um Punkt 19.30 Uhr gewohnt lässig und die rechte Hand zum Victory-Zeichen geformt das Podest. Sich hinter einem Rednerpult zu verschanzen ist nicht sein Ding. Er will in der Mitte der Bürger sein. Deshalb gibt es keine Showbühne mit abgetrenntem Mitgliederbereich. „Ich laufe hier zwar wie ein hospitalistischer Tiger bei Hagenbeck herum, aber dafür kann ich Sie sehen und bemerke, wenn Sie murrig werden.“ Sein Dialog auf Augenhöhe kommt an bei den Menschen, deren Fragen er beantworten will. „Anschließend halte ich eine 120-minütige Rede.“ Die Lacher hat er auf seiner Seite.

Steinbrück präsentiert sich selbstbewusst, ironisch, wettert gegen die schwarz-gelbe Bundesregierung, erntet immer wieder Beifall für seine Wahlkampfthemen wie Mietpreisbremse, Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Pflegereform und Mindestlohn. „Was ist Ihre erste Tat am 22. September?“, lautet die erste Frage aus dem Publikum. Die Antwort kommt prompt. „Ausschlafen, dann mit meiner Frau frühstücken“, sagt Steinbrück, bevor er auf sein 100-Tage-Programm eingeht. Besonders wichtig seien für ihn, einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen, das „saudämliche Betreuungsgeld“ abzuschaffen und das Geld in die Kitas, die frühkindliche Bildung und die Bezahlung der Erzieherinnen zu stecken. Zustimmendes Nicken. Bravo-Rufe. „Und wir wollen gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit durchsetzen“, so der Kanzlerkandidat. Auch Seitenhiebe auf Angela Merkel, für die er sich ein „Ministeramt für Ungefähres“ vorstellen könnte, kommen bei Steinbrücks Auftritt nicht zu kurz. „Ja, die Merkel ist heute Abend irgendwo am Fischmarkt“, sagt er und grinst. Dagegen sei nichts einzuwenden. „Da war ich lange Parkwächter. Mit 16. Das war eine Karriere.“ Müdigkeit ist dem Mann mit dem entschlossenen Zug um Mund und Augen auch nach wochenlangem Wahlkampf nicht anzumerken. Dass sich die Wahlkampfwochen gelohnt haben und er am 22. September Angela Merkel ablöst, davon sind zumindest viele Zuhörer auf dem Domplatz überzeugt.