Die Bundeskanzlerin will vor der Wahl das Image der kühlen, emotionsarmen Macherin loswerden. Helfen soll eine Offensive per Interviews, Website und Broschüren.

Berlin/Hamburg. Im Vorfeld der Bundestagswahl könnte man sich der reizvollen Aufgabe unterziehen, einen Katalog von Merkmalen aufzulisten, die einen Kanzler-Kandidaten für viele Wähler – namentlich jene des rheinischen oder süddeutschen Katholizismus – eher mühsam vermittelbar machen würden. Zum Beispiel Frau, aus dem Osten, womöglich ehemalige FDJ-Funktionärin, Protestantin, geschieden, wiederverheiratet, aber kinderlos. Erstaunlich ist, dass die bei weitem stärkste Kraft der deutschen Politik all jene Merkmale aufweist: Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Es war ein langer Weg aus der kargen Uckermark zur „mächtigsten Frau der Welt“, wie die „Forbes“-Liste Merkel auch dieses Jahr verzeichnet. „Kohls Mädchen“ haben selbst in der CDU viele Granden sträflich unterschätzt; sie dümpeln nun verdutzt in Merkels Kielwasser. Dass 57 Prozent der Deutschen die Kanzlerin behalten wollen, dass sogar fast die Hälfte der Grünen-Wähler gern an ihr festhalten würden, wie eine neue Forsa-Umfrage ergab, muss die Opposition zur Verzweiflung bringen. Sie versucht, die Politik der Kanzlerin mit dem Etikett der Erstarrung zu versehen, einer handlungsarmen, biedermeierlichen Selbstzufriedenheit in Zeiten dramatisch strudelnder Krise. Doch das Bild scheint nicht zu verfangen; und das sozialdemokratische Paradepferd Peer Steinbrück, mit vielen Hoffnungen an den Start gegangen, wirft fast an jeder Hürde ein paar Stangen ab.

Merkel macht derweil ungerührt ihr Ding; nicht kapriziös oder elegant, aber solide und verlässlich. Die großen Emotionen aber sind nicht ihre Sache; jenes Feuer, das ein Barack Obama oder ein Bill Clinton zu entfachen vermögen, tritt bei Angela Merkel maximal in Form milder Heizdeckenwärme auf.

Es gab Mitte Juni einen politisch gefährlichen Moment, als Peer Steinbrück mit seiner Frau Gertrud auf der Bühne des Berliner Tempodroms saß und mitten im Interview tränenerstickt verstummte. Seine Frau hatte sich so warmherzig für ihn in die Bresche geworfen, dass dem sonst gern angriffslustigen Volldampfredner gerührt die Stimme versagte. Inszeniert war dies nicht; in jenem Moment offenbarte sich der forsche Kandidat als Mensch wie du und ich; zeigte Schwäche, war verletzlich und übervoll mit Gefühl.

Ähnliches von Merkel im telegenen Dialog mit ihren Mann Joachim Sauer zu erwarten, wäre zu viel des Guten verlangt. Doch der Kanzlerin muss gedämmert haben, dass das nüchterne Image der eisernen Mutti eines nicht wirklich zu transportieren vermag: Menschlichkeit und Wärme. Und da Merkel das mahnende Steinbrück-Exempel vor Augen hat und nicht länger wie die fleischgewordene Uckermark wahrgenommen werden möchte, hat sie jüngst vergleichsweise tiefe Einblicke in ihr Privat- und Seelenleben gewährt. Mittels einer Offensive per Interviews, Website und Broschüren soll der Wähler zu der Erkenntnis gebracht werden: Nanu – die ist ja gar nicht so!

Das Geheimnis der Merkel-Raute

Im Frauenmagazin „Brigitte“ enthüllte die Kanzlerin gar das Geheimnis der „Merkel-Raute“, jener vierkantigen, fast gebetartigen Handhaltung mit aneinandergepressten Fingerspitzen, wie sie Redner auf Firmenjubiläen auszeichnet. Sie habe einfach „nicht gewusst, wohin mit den Armen“, räumt Merkel ein. Immerhin verrate diese Geste doch „eine gewisse Liebe zur Symmetrie“. Dem Frauenblatt verriet die mächtigste Frau der Welt auch, dass sie nicht generell auf Männer neidisch sei, wohl aber auf deren tiefe Stimmen und – ein wenig unerwartet – die praktische Fähigkeit zum Holzhacken.

Die bescheidene Selbstentblößung gipfelt im Geständnis gegenüber dem Magazin „Neon“, das Unvernünftigste, das sie je als junge Frau getan habe, sei der übermäßige Genuss von Kirschwein gewesen. „Da tritt die alkoholische Wirkung noch schneller ein als bei normalem Rotwein – das habe ich unterschätzt“, weiß die Physikerin jetzt, die über den Mechanismus von Zerfallsreaktionen promoviert hat. Man bleibe ja immer Kind, solange noch ein Elternteil lebe, sagte Merkel weiter, beeilte sich aber zu versichern, dass ihre Mutter ihr heute „nicht mehr sagt, was ich zu tun habe“. Man erfährt in dem Interview auch noch, dass sie sonntags gern mal „Inspektor Barnaby“ im Fernsehen schaut – eine betuliche britische Krimiserie um einen spröden, immer kontrolliert agierenden Landpolizisten.

Apropos Land: Angela Merkel lässt keine Gelegenheit aus, ihre Verbundenheit mit der freien Natur zu bekunden. Auf einem CDU-Faltblatt sitzt sie unter einem Baum an einem Seeufer und sagt: „Ich bin eine leidenschaftliche Gärtnerin und ziehe mein eigenes Gemüse.“ Ob dies womöglich auf dem Rasen vor dem Kanzleramt stattfindet, bleibt unerwähnt. Aus dem just beendeten Urlaub gibt es Bilder, auf denen das zünftig gewandete Kanzler-Paar bei der Erklimmung des 3120 Meter hohen Hinteren Schöneck im Ortler-Massiv zu bestaunen ist, der auf italienisch als Dossobello di Dentro über die Zunge rollt.

Was für Vorgänger Kohl der Wolfgangsee war, ist für die aktuelle Kanzlerin Merkel der Bergsportort Sulden, wo Extremkletterer Reinhold Messner eine Herde Yaks hält. „Wenn wir beide frei haben, sind wir so oft wie möglich in der Natur – im Sommer beim Wandern und im Winter beim Langlaufen“, bekundet Merkel. Ein Foto von ihr und Sauer vor dem Abflug in den Urlaub mit abgewetztem Pilotenkoffer und bunter Supermarkttasche als Reisegepäck signalisiert: Achtung – ganz normale Menschen! Daher für normale Menschen wählbar!

Auf ihrem Wahlprospekt enthüllt sie zudem, dass ihr Mann, der Quantenchemiker, „meist“ an ihrer Kartoffelsuppe und auch an ihren Rouladen nichts auszusetzen hat. Gemessen an der plüschigen Wohligkeit der übrigen Einblicke sieht man geradezu eine Ehekrise heraufdräuen, wenn Angela Merkel enthüllt: „Nur auf dem Kuchen sind ihm immer zu wenig Streusel. Er ist halt Konditorensohn.“ Deutschland, so scheint es, wird zum „Hotel Mama“.