SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier spricht über den Hamburger Volksentscheid, den NSA-Skandal, den Wahlkampf gegen Kanzlerin Merkel und seine eigenen Ambitionen.

Hamburg. Als Deutschland 1990 im Umbruch der Einigung war, startete Frank-Walter Steinmeier seine politische Karriere bei der SPD in Hannover, unter Ministerpräsident Gerhard Schröder. Als dieser Kanzler wurde, stand auch Steinmeier weiter an seiner Seite, erst als Kanzleramtschef, dann als Außenminister. Nun führt er die SPD-Fraktion in der Opposition im Bundestag an – und stellt sich vor Spitzenkandidat Peer Steinbrück. Sein Stolperstart ins Wahljahr sei vergessen.

Hamburger Abendblatt: Schwarz-Gelb erreicht in Umfragen erstmals seit 2009 wieder eine Mehrheit. Die Regierung schlittert durch Drohnen-Affäre und NSA-Skandal – und die SPD kann nicht davon profitieren. Woran liegt das?

Frank-Walter Steinmeier: Das sehe ich anders. Spätestens seitdem Energiepreise, Mieten, Drohnen-Affäre und der Umgang der schwarz-gelben Regierung mit den Abhörmaßnahmen des US-Geheimdienstes die öffentliche Debatte bestimmen, nehmen die Zweifel an der Kompetenz dieser Koalition täglich zu. Mit Blick auf die Umfragen sage ich: Man muss sie kennen, aber darf sie nicht überschätzen. Am Donnerstag lag Schwarz-Gelb in der ARD vorne, schon am Freitag im ZDF sah es wieder anders aus. Klar ist nur: Nichts ist entschieden. Das Rennen ist offen, darum lohnt es sich zu kämpfen. Ich sage Ihnen voraus, dass das Wahlergebnis anders aussehen wird als die letzten Umfragen.

Wie denn?

Steinmeier: Ich sehe am Ende eine starke SPD. Unser Wunschpartner für eine Koalition sind die Grünen. Ein Bündnis mit der Linkspartei habe ich 2009 ausgeschlossen, und seitdem sind sie nicht regierungsfähiger geworden. Mögen andere über Konstellationen und Koalitionen nach der Wahl spekulieren. Ich kämpfe für eine hohe Wahlbeteiligung und um die Stimmen von Menschen, die zuletzt nicht SPD gewählt haben oder gar nicht zur Wahl gegangen sind.

Auf einigen Ihrer Plakate attackiert die SPD lieber die Kanzlerin, als die eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen.

Steinmeier: Wir werden unsere zentralen Themen auf den Großflächen plakatieren: Mindestlohn, Wohnen und Mieten, bessere Kinderbetreuung und eine Rente, von der man im Alter auch leben kann. Aber Wahlkampf heißt auch Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Ein Kabinett, in dem sich die Beteiligten noch vor Kurzem als Gurkentruppe beschimpft haben, eine Regierung, in der nichts entschieden wird, eine Frau Merkel, die nicht Präsidentin der Republik, sondern als Kanzlerin für dieses Kabinett verantwortlich ist – das kann nicht außerhalb der Kritik stehen.

Kommt auch Peer Steinbrück noch auf die SPD-Plakate?

Steinmeier: Das ist hoffentlich keine ernsthafte Frage. Aber ich kann sie beruhigen. Wie in allen Wahlkämpfen kommen erst die Themenplakate, dann die Kandidatenplakate.

Ist ein Neuanfang nach der Sommerpause mit Steinbrück überhaupt machbar?

Steinmeier: Den brauchen wir nicht. Peer Steinbrück hat selbst gesagt, dass der Start holprig war. Das ist längst vergessen. Jetzt hat die Kampagne Fahrt aufgenommen. Steinbrück ist dafür geschätzt worden, dass er sein Gewissen nie an der Garderobe abgegeben hat und Klartext redet. Das hat er bisher getan – und das wird sich in der heißen Wahlkampfphase rechnen.

In dieser Zeit wird auch das Thema NSA-Abhörskandal weiter wichtig sein. Ist der Whistleblower Edward Snowden ein Held oder ein Verräter?

Steinmeier: Darüber wird die Geschichte entscheiden. Aber ganz zweifellos kommt ihm das Verdienst zu, dass eine Debatte in Gang gekommen ist, die es sonst nie gegeben hätte. Snowden hat einen Skandal und dessen nicht für möglich gehaltene Dimension öffentlich gemacht. Ich halte es für wichtig, dass Staaten für ihre eigene Sicherheit sorgen und Geheimdienste zusammenarbeiten. Wir müssen unterscheiden: Natürlich sind Staaten für die Sicherheit ihrer Bürger verantwortlich. Und natürlich müssen Sicherheitsbehörden befreundeter Staaten zusammenarbeiten, wenn etwa Gefahren aus terroristischen Anschlägen drohen. In Hamburg weiß man mit Blick auf 9/11, wovon ich rede. Aber all das rechtfertigt nicht eine lückenlose Überwachung des privaten E-Mail-Verkehrs. Ebenso wenig dürfen wir hinnehmen, dass Botschaften und selbst die öffentlichen Einrichtungen der Europäischen Union in Washington ausspioniert wurden. Das muss ein sofortiges Ende haben.

Wie weit kann und soll Deutschland Amerika kritisieren?

Steinmeier: Ich halte es für dummes Zeug, wenn Innenminister Friedrich Kritikern Anti-Amerikanismus vorwirft. Zur Freundschaft mit Amerika gehört auch, dass man Rückgrat zeigt und sich die Wahrheit sagt. Das haben Sozialdemokraten in der Vergangenheit bewiesen. Und das erwarte ich auch von Frau Merkel und ihrem Kabinett. Aber sie hat bisher versagt und handelt nur auf Druck von Opposition und Medien.

Wissen Sie etwas über Zugriffe auf Daten durch deutsche Sicherheitsbehörden?

Steinmeier: Die SPD hat von Anfang an ihre parlamentarischen Möglichkeiten zur Aufklärung der Affäre intensiv genutzt und im Parlamentarischen Kontrollgremium mehrfach die Verantwortlichen aus Regierung und Diensten vorgeladen, um Auskunft zu erhalten. Bis zur letzten Sitzung galt die Aussage des BND und des Kanzleramtsministers, dass allein zwei Datensätze aus besonderem Grund der Terrorismus-Bekämpfung an die Amerikaner weitergereicht wurden. Die Berichterstattung am Anfang dieser Woche legt anderes nahe. Mit diesen Widersprüchen werden wir Herrn Pofalla in der kommenden Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums konfrontieren.

In einem Volksentscheid geht es am Tag der Bundestagswahl in Hamburg auch darum, ob die Stromnetze wieder vollständig in Hand der Stadt sein sollen. Ist das der richtige Schritt?

Steinmeier: Die SPD hat sich da klar positioniert: Das Geld wird für andere Projekte dringend gebraucht. Kitas, Wohnungen, Sicherheit – all das ist wichtig. Deshalb hat Olaf Scholz klug gehandelt und sich durch die Minderheitsbeteiligung entscheidenden Einfluss gesichert. Der Fehler wurde woanders gemacht: Ich habe bereits vor fünf Jahren kritisiert, dass die deutschen Energienetze zu unterschiedlichen Anteilen an ganz unterschiedliche Eigentümer verkauft wurden, auch an nicht europäische Finanzanleger. Die Energienetze sind das Nervensystem für die deutsche Wirtschaft. Ich hätte mir gewünscht, dass die Hochspannungsnetze in der Hand einer deutschen Netzgesellschaft unter Beteiligung des Bundes geblieben wären. Die Union hat diesen Vorschlag damals abgelehnt. Nun lässt sich dieser Fehler nicht mehr korrigieren – und der Netzausbau kommt nur schleppend voran.

Gilt das auch für die kommunalen Netze?

Steinmeier: Die Kommune kann Planungssicherheit und Versorgungssicherheit besser gewährleisten als internationale Konzerne, die nicht an der Energiewende interessiert sind. Daher ist beispielsweise ein teilweiser Rückkauf der Netze, wie die SPD das hier in Hamburg getan hat, für Kommunen durchaus sinnvoll und als kommunale Beteiligung zur Ausübung von Einfluss auch ausreichend. Der hundertprozentige Rückkauf, wie ihn manche fordern, ist teure Rechthaberei, die der Politik die Finanzmittel für nicht weniger wichtige Politikfelder nimmt.

In Großstädten steigen die Mietpreise, gleichzeitig klagen Vermieter über hohe Belastungen durch energetische Sanierungen. Welche Lösungen hat die SPD?

Steinmeier: Noch nie war der Wohnungsmarkt so gespalten wie heute. In einigen Vierteln der Großstädte explodieren die Mietpreise, auf dem Land dagegen stehen die Wohnungen leer. Wir brauchen Lösungen vor allem für die Ballungsgebiete. Auch in Hamburg hat der Senat über zehn Jahre verpasst, günstige Wohnungen zu bauen. Es war der richtige Schritt von Bürgermeister Olaf Scholz, hier wieder anzusetzen. Andere Bundesländer wie Niedersachsen und NRW ziehen nach.

Aber der Wohnungsmarkt entspannt sich nicht entscheidend in Hamburg?

Steinmeier: Wohnungspolitik braucht Zeit. Deshalb setzt sich die SPD nach der Wahl für eine Mietpreisbremse für Bestandswohnungen ein. Sonst riskieren wir bei jeder Neuvermietung Preissprünge von 20 bis 40 Prozent. Mieter mit geringen Einkommen werden aus ihren Vierteln vertrieben. Gerade mit Blick auf die älter werdende Gesellschaft kommen wir nicht umhin, uns stärker um den altersgerechten Umbau von Wohnungen zu kümmern. Hier ist auch der Bund in der Verantwortung.

Falls es für Rot-Grün bei der Wahl reicht: Welches Amt werden Sie in einer neuen Koalition übernehmen?

Steinmeier: Meine Erfahrung aus 23 Jahren Politik sagt mir: Diejenigen, die nur mit dem Gedanken um Pöstchen und Positionen in den Wahlkampf gehen, werden am Ende meistens enttäuscht. Meine und unsere Aufgabe ist jetzt eine andere. Im Übrigen: Ich bin Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag. Und ich bin das gerne.