Anträge sind um 90 Prozent gestiegen. In einigen Wochen kommen 5000 syrische Flüchtlinge hinzu. Länder fühlen sich überfordert

Für einen Arzt bist du aber sehr schüchtern, Kamal“, lacht Mageda Abou-Khalil. Vorsichtiger Händedruck, leise Stimme. Kamal ist 26, Syrer und vor drei Monaten im Übergangswohnheim für Flüchtlinge an der Eduard-Grunow-Straße in Bremen angekommen. Das Heim unter Leitung von Mageda Abou-Khalil wurde erst Mitte April eröffnet, es verströmt noch den Geruch neuer Räume. Große Fenster, weiß verputzte Wände, warmer Holzboden. Eigentlich sollte aus dem vierstöckigen Gebäude ein Hostel werden, doch angesichts der vielen fehlenden Plätze zur Unterbringung von Asylsuchenden entschied sich die Stadt anders. Nun wohnen 50 Menschen aus dem Iran, Afghanistan, Nigeria und Syrien hier. Man kann dieses Heim als einen Glücksfall bezeichnen. Zwar ist auch hier, wie in ganz Deutschland, der Platz knapp, aber die Zimmer sind größer als vorgeschrieben, die Atmosphäre freundlich. Mageda Abou-Khalil, die noch ein zweites Heim in Bremen leitet, vermittelt Deutschkurse, macht Behördengänge und hilft bei der Wohnungssuche. Nur, es gibt in Bremen keine Wohnungen. Normalbürger haben es schon schwer, eine zu finden. Menschen wie Kamal noch mehr.

Er bewohnt ein kleines Zimmer. Zehn Quadratmeter mit Bett, Tisch, Kühlschrank, Fernseher und Bad. Keine Bilder, keine persönlichen Erinnerungsstücke. „Er fühlt sich einsam hier“, erzählt Mageda Abou-Khalil, die für alle Bewohner die erste Ansprechpartnerin und oft einzige Zuhörerin und Psychologin ist. Jetzt übersetzt sie, was Kamal auf Arabisch erzählt. Kamal hat in Syrien als Arzt gearbeitet, und sein Fehler war es, ärztliche Neutralität zu wahren. Er behandelte Oppositionelle wie Regierungstreue. Dann kamen die Morddrohungen, von beiden Seiten, und Kamal floh mit seinen Eltern und den sieben Geschwistern in die kurdischen Gebiete Syriens. Von dort gelangte er allein nach Deutschland. Seine Familie blieb.

Seit Beginn des Bürgerkriegs sind Tausende syrische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Ende März versprach Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) dann, Deutschland werde ein Kontingent von 5000 Flüchtlingen aufnehmen. Die ersten sind da, die Mehrheit folgt in den nächsten Wochen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind bereits rund 1,8 Millionen Syrer in die Nachbarländer geflohen, vor allem nach Jordanien, in den Libanon und die Türkei sowie den kurdischen Nordirak. Dabei steht nur ein Teil der Menschen einer Auswahl für das deutsche Aufnahmeprogramm zur Verfügung. Denn zum einen können längst nicht alle 1,8 Millionen Menschen durch das UNHCR erfasst werden, da viele informell über die Grenzen gingen und nun bei Verwandten oder in rasch angemieteten Wohnungen und Behelfsunterkünften leben. Zum anderen will sich Deutschland nach Angaben des Innenministeriums auf Flüchtlinge konzentrieren, die derzeit im Libanon leben. Denn das Land, halb so groß wie Hessen, droht unter der Last der Bürgerkriegsflüchtlinge zu ersticken.

Offiziell registriert waren im Libanon am 31. März 2013 rund 509.000 Flüchtlinge, das libanesische Innenministerium vermutet, dass es doppelt so viele sind. Die meisten von ihnen hatten nicht vor, eine Reise nach Europa zu unternehmen, sondern planten, bald nach Syrien zurückzukehren. Deutschland als Ziel kam meist nur bei denen infrage, die hier Verwandte haben. Daher forderten Hilfswerke, dass man die Menschen nicht im Rahmen eines formellen, auf Dauer angelegten Kontingentprogramms holen sollte, sondern es ihnen durch eine Lockerung der Visumbestimmungen erleichtern sollte, für einige Zeit nach Deutschland zu kommen. Auf diesem Wege kamen tatsächlich einige tausend Menschen aus Syrien. Doch schon weil ein Ende des Bürgerkriegs nicht absehbar ist, sollen nun auch Menschen per Kontingentprogramm hierher reisen. Neben Schwerverletzten sowie Kleinkindern und Müttern will die Bundesregierung besonders jene berücksichtigen, die wegen ihres Bildungsstands oder ihres politischen Engagements einen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes leisten können. Rund 1600 Personen aus dieser Gruppe will Deutschland aufnehmen.

In den Bundesländern ist man skeptisch. „Wer kann bei der Auswahl prüfen, ob diese Menschen auch tatsächlich wieder zurückgehen werden und wollen? Außerdem wird das humanitäre Kontingent dadurch geschmälert“, heißt es aus einem Landesministerium. Doch man kann darin auch eine Chance sehen. „Es ist zumindest ein interessanter Ansatz, der auch bei der Bevölkerung die Akzeptanz erhöhen könnte“, sagt Evelyn Jäger, Referatsleiterin für die Aufnahme und Integration von Migranten in Schleswig-Holstein. Eine Auswahl nach Bildungsstand würde auch bedeuten, dass Christen überproportional vertreten wären. Zwar beträgt ihr Anteil an der syrischen Gesamtbevölkerung nur 8,5 Prozent, doch unter den Flüchtlingen scheinen sie stärker vertreten zu sein. Hinzu kommt, dass Christen in Syrien eher der Mittel- und Oberschicht angehören, sodass sie dem Bildungskriterium eher gerecht werden könnten.

Aber wohin mit den Flüchtlingen? In welches Bundesland man auch blickt, überall sind die Flüchtlingsheime überfüllt oder erreichen bald die Kapazitätsgrenze. Derweil steigt die Zahl der Asylanträge weiter. Bis Ende Juni dieses Jahres wurden in Deutschland rund 43.000 Asylerstanträge gestellt. 2012 waren es zum gleichen Zeitpunkt knapp 22.500. Das ist ein Anstieg um rund 90 Prozent. Und diese Zahl beinhaltet nicht die Flüchtlinge aus Resettlement-Programmen, die Deutschland aus Drittstaaten aufnimmt, etwa die 99 Iraker, die unlängst aus der Türkei in Hannover ankamen. Auch die 5000 Syrer sind nicht eingerechnet, da sie direkt einen Aufenthaltsstatus erhalten.

Den größten Teil der Asyl-Antragsteller bilden Menschen aus Russland, viele von ihnen aus Tschetschenien. Der starke Zustrom aus dieser Region wurde wahrscheinlich durch Gerüchte ausgelöst. Man erzählt sich, Deutschland sei bereit, 40.000 Tschetschenen aufzunehmen. „In einigen Dörfern verkaufen ganze Straßen ihr ganzes Vermögen, um die Schlepper zu bezahlen“, sagt Swetlana Gannuschkina, Leiterin der Nichtregierungsorganisation Bürgerlicher Beistand. Sie vermutet, dass die Schlepper die Gerüchte verbreiten könnten. Dass die Menschen den Lügen glauben, hänge vor allem mit der Aussichtslosigkeit der Situation zusammen. „Die Situation erinnert an die schlimmsten Stalin-Zeiten“, sagt Gannuschkina. Menschen werden entführt und ermordet, es gebe aber keine Ermittlungen in den Fällen. Die Verwandten von Opfern wenden sich aus Angst nicht an die Staatsanwaltschaft und nur selten an Menschenrechtler. „Die Menschen fliehen und sind bereit, an alles zu glauben, was ihnen die Hoffnung gibt, aufgenommen zu werden.“

Diese Hoffnung wird in Deutschland dann zu einer Zahl. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wagt eine Prognose für die Asylanträge: „Wir rechnen damit, dass die 100.000-Marke in diesem Jahr überschritten wird“, sagt Christiane Germann vom BAMF. Beim chronischen Mangel an Plätzen könnte dies dramatisch werden. „Wir haben ein grundsätzliches Problem mit der Unterbringung von Flüchtlingen in ganz Deutschland“, sagt David Lukaßen von der Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen in Bremen. Nach den 90er-Jahren sei die Zahl der Flüchtlinge so stark zurückgegangen, dass Heime leer standen. 1992 etwa lag die Zahl der Asylbewerber bei rund 438.000 und damit weit über den heutigen Zahlen. „Leere Heime muss man natürlich rechtfertigen. Also wurden sie mangels Bedarf geschlossen.“ Und heute suchen die Länder händeringend nach Unterbringungsmöglichkeiten. Das können Zelte oder Wohncontainer sein. Wer es wie Kamal in ein solches Wohnheim wie in Bremen schafft, hat Glück, sofern Glück hier eine Kategorie sein kann. Wo die 5000 Syrer in einigen Wochen unterkommen sollen, weiß bis jetzt niemand so recht.