Eine neue Studie ergibt: Religiosität geht in Europa besonders bei Protestanten zurück. Starker Glaube findet sich hauptsächlich in jenen Ländern, die bei Wohlstand und Modernität weit hinter Europa zurückbleiben.

Berlin. Groß war die Aufregung im April 2012, als der Schriftsteller Martin Mosebach in der „Welt“ behauptete, dass der Protestantismus „fast notwendig zur Schwächung des Glaubens geführt hat“. Evangelische als halbe Atheisten? Das sei völlig abwegig, wurde Mosebach von deutschen Protestanten entgegengehalten, man finde keine Belege für einen Zusammenhang zwischen wachsendem Unglauben und reformatorischem Christentum. In der Tat gab es mit den Belegen ein Problem, weil Mosebach seine These damals daran festmachte, dass der Gottesglaube im protestantisch geprägten Ostdeutschland schwindet – wo man ja wohl auch den Einfluss einer 40-jährigen SED-Herrschaft in Rechnung stellen muss.

Doch nun gibt es einen weiteren Hinweis, dass an Mosebachs These etwas dran sein könnte. Laut dem neuen Religionsmonitor, einer großen internationalen Vergleichsstudie der Bertelsmann-Stiftung, ist es um die christliche Religiosität auch im lutherisch geprägten Schweden, das keine kommunistische Diktatur erleiden musste, schlecht bestellt. So ergibt sich aus den Daten des Religionsmonitors, dass nach den Kriterien dieser Untersuchung in Schweden mittlerweile nur noch rund 45 Prozent der Bevölkerung als „hoch-“ oder „mittelreligiös“ gelten können.

Damit ist der Abstand der Skandinavier zu den Ostdeutschen, wo sich ausgeprägte Religiosität nur bei 35 Prozent der Bevölkerung findet, nicht besonders groß. Zum Vergleich: In Westdeutschland sind knapp 80 Prozent der Menschen in diesem Sinne religiös; im zwar laizistischen, aber kulturell tief katholischen Frankreich noch über 60 Prozent. Ähnliche Werte wie die Ostdeutschen haben die Schweden auch dort, wo die Bürger befragt wurden, für wie religiös sie sich denn selbst halten. Da sagten fast 70 Prozent der Schweden, sie seien nicht oder wenig religiös beziehungsweise spirituell. Bei den Ostdeutschen liegen diese Werte nur knapp höher. „Länder mit einer protestantischen Kulturgeschichte“, so resümieren die Autoren der Studie, „scheinen mittlerweile einen beträchtlichen Weg der Säkularisierung hinter sich gebracht zu haben.“

Auch im Katholizismus sind mittlerweile Erosionsprozesse zu beobachten

Weitere Nahrung erhält dies dort, wo es im Religionsmonitor darum geht, wie stark die Religiosität in den verschiedenen Weltreligionen ausgeprägt ist. Ergebnis: Abgesehen von den Konfessionslosen haben in Europa die Protestanten die geringsten Glaubenswerte. Fast 100 Prozent der Muslime (Schiiten, Sunniten und in etwas geringerem Ausmaß Aleviten) sind „hoch-“ oder „mittelreligiös“ und rund 85 Prozent der Katholiken. Aber bei den Protestanten sind es nur gut 70 Prozent.

Allerdings sind hierbei zwei gewichtige Einschränkungen zu machen. Erstens lässt sich von einem Glaubensverlust der Protestanten nur in Bezug auf die Mitglieder der evangelischen Großkirchen sprechen. Hingegen liegt bei den Evangelikalen und Pfingstlern die Religiosität noch über der von Katholiken. Insofern lässt sich im europäischen Protestantismus von einer möglicherweise wachsenden Kluft zwischen „Etablierten“ und freikirchlich Geprägten sprechen.

Zweitens aber gibt es auch im Katholizismus Erosionsprozesse. So geht im katholischen Spanien die Religiosität der jüngeren Generation stärker als in jedem anderen untersuchten Land Europas zurück. Bei den über 45-Jährigen stellt der Religionsmonitor für Spanien eine „hohe“ oder „mittlere“ Religiosität bei mehr als 80 Prozent der Menschen fest. Doch Spanier zwischen 30 und 45 Jahren sind nur zu 65 Prozent religiös, und die unter 29-Jährigen kommen nur auf 57 Prozent.

Dabei sagen mehr als 80 Prozent aller befragten Spanier, sie seien religiös erzogen worden. Aber trotz dieser kindlichen Prägungen verlieren viele jüngere Spanier den Glauben. Das könnte sich damit erklären lassen, dass Spanien in den letzten 30 Jahren enorm modernisiert (und trotz Krise auch reicher) wurde. Möglicherweise greift dort ein Mechanismus, bei dem sich laut Religionsmonitor „die sozioökonomische Modernisierung von Gesellschaften eher negativ auf die Bedeutung von Religion auswirkt“ und es daher wohl entgegen mancher Mutmaßung „in Europa keinen religiösen Aufschwung gibt“.

Entsprechend findet sich der starke Glaube weltweit hauptsächlich in jenen Ländern, die in puncto Wohlstand und Modernität weit hinter den Europäern zurückbleiben, in Indien oder der Türkei, wo der Anteil der Nichtgläubigen im Vergleich zu Europa verschwindend gering ist. Und wenn ein außereuropäisches Land sehr wohlhabend und modernisierungsfreudig ist – Beispiel Südkorea –, so ist auch dort der Glaube auf dem Rückzug. Südkorea hat bei den Ungläubigen mit Anteilen rund um die 70 Prozent Werte von ostdeutschem Niveau.

Dass es sich dabei in Südkorea um eine Folge des Modernisierungsprozesses im Verlauf der letzten Jahrzehnte handelt, wird dadurch erhärtet, dass die Religiosität dort bei den jüngeren Generationen deutlich schwächer ausgeprägt ist als bei den älteren. Sind noch mehr als 60 Prozent der Südkoreaner über 45 Jahre stärker religiös, so liegt der Anteil dieser Menschen bei den Bürgern unter 29 Jahren bei nur noch 37 Prozent.

Geringer Nichtgläubigenanteil in den USA

Gleichwohl kann es nicht als universales Prinzip gelten, dass mit der Modernisierung der Glaube schwindet. Das schon klassische und auch in diesem Religionsmonitor wieder deutlich werdende Gegenbeispiel sind die USA mit einem Nichtgläubigenanteil von gerade mal 30 Prozent. Nach den Kriterien des Religionsmonitors müssen deutlich mehr als 90 Prozent der US-Amerikaner als religiös denkend gelten (auch wenn sie sich selbst nicht für religiös halten), womit sie fast an die 98-Prozent-Werte der Türkei heranreichen. Insofern wird in den USA die These bestätigt, dass es keinen direkten, keinen überall wirksamen Zusammenhang zwischen Modernität und Glaubensverlust gibt.

Ja, in Brasilien mit seiner nach wie vor hohen Religiosität, seinen wenigen Ungläubigen bei gleichzeitig rasanten gesellschaftlichen Veränderungen lässt sich möglicherweise erkennen, dass starker Glaube ein Motor oder Modus von Modernisierung sein kann. So boomen in dem traditionell katholischen Land derzeit die protestantischen Pfingstkirchen, deren Missionserfolge nach Ansicht der Studienautoren „auf eine Mischung aus einem eine gewisse Sicherheit garantierenden Dogmatismus, der starken sozialen Integrationskraft dieser Kirchen und einem hohen Charisma ihrer Geistlichen zurückzuführen“ seien. Diese Kirchen indes sind besonders erfolgreich in der aufstiegsbereiten unteren Mittelschicht. Unter bestimmten Bedingungen also scheint „harte“ Religiosität durchaus mit bestimmten Formen der Modernisierung zusammengehen zu können.

Einem pluralistischen Staatsverständnis jedenfalls scheint tiefer Glaube nicht entgegenzustehen. In keinem der diesbezüglich betrachteten elf Länder innerhalb und außerhalb Europas plädiert eine Mehrheit der Befragten für eine Dominanz der Religion über die Politik. Auch in der Türkei sind lediglich jeweils gut 20 Prozent der Bürger der Ansicht, dass „nur Politiker, die an Gott glauben, für ein öffentliches Amt geeignet“ sind oder dass „führende Vertreter der Religionen auf die Entscheidungen der Regierung Einfluss nehmen sollten“. Durchaus denkbar also, dass die Islamisierungsversuche des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan in der dortigen Bevölkerung weniger Rückhalt haben, als der Ministerpräsident derzeit zu suggerieren versucht.