Regierungschef Erdogan lässt den Taksim-Platz mit rücksichtsloser Härte räumen. Hunderte Verletzte – darunter Grünen-Chefin Claudia Roth

Istanbul. Eine Fischerboot-Parade zierte die blauen Wasser des Bosporus am Sonntag, alle geschmückt mit identischen Konterfeis des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Busse mit seinen Anhängern kamen aus dem ganzen Land, Fähren über den Bosporus wurden für sie organisiert, die öffentlichen Verkehrsmittel waren für sie kostenlos, Fahrzeuge mit AKP-Anhängern hatten Vorfahrt auf den Straßen Istanbuls.

Eine ganze Reihe von Erdogans Sprechern und Ministern hatten angekündigt, dass diese Veranstaltung – um 18 Uhr Ortszeit – ein „Triumph der Demokratie“ sein werde, da nämlich werde man sehen, dass die überwältigende Mehrheit der Türken hinter ihm steht. Oder zumindest die 50 Prozent der Wähler, 42,7 Prozent der Wahlberechtigten, die bei den letzten Wahlen für ihn stimmten. Auch jene, die seit mehr als zwei Wochen täglich in vielen Städten gegen ihn demonstrieren, wollten zeigen, wie viele sie sind. „Eine Million“ Menschen sollten zum Taksim-Platz kommen, so wie dies bereits am 1. Juni geschehen war.

Das hätte natürlich schlecht ausgesehen, und so ließ Erdogan ohne Vorwarnung am Sonnabendabend den Taksim-Platz und den seit zwei Wochen besetzten Gezi-Park mit Gewalt räumen. Die Polizeiaktion in der Nacht wurde zu einer Straßenschlacht in weiten Teilen Istanbuls. Auch die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth wurde leicht verletzt: Gegen das Divan-Hotel, das wie drei andere Luxushotels seine Türen für Demonstranten und vor allem Verwundete geöffnet hatte, setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein, brach am Ende sogar durch die geschlossenen Türen.

In dieser Nacht geschah viel, was keine Werbung für die „moderne demokratische“ Türkei war – paramilitärische Einheiten wurden eingesetzt, EU-Minister Egemen Bagis, so hieß es in den Medien, habe erklärt, dass „jeder, der in dieser Nacht den Taksim-Platz betritt, als Terrorist behandelt wird“. Dutzende Demonstranten wurden verhaftet, nach Angaben von Anwälten konnte nur für 13 von ihnen festgestellt werden, wo sie gefangen gehalten wurden. Mindestens ein Arzt und ein Medizinstudent wurden verhaftet, die Demonstranten geholfen hatten, und Gouverneur Avni Mutlu rief Mediziner auf, verletzten Demonstranten nicht zu helfen.

Allein das Deutsche Krankenhaus, das nur so heißt, aber nicht deutsch ist, behandelte rund 40 Verletzte, bis gegen 3.30 Uhr Ortszeit ein Wasserwerfer das Krankenhaus besprühte und Polizei Zugang erzwang.

Bis nach 8 Uhr morgens dauerten die Auseinandersetzungen an. Danach war der Taksim-Platz geräumt, abgesperrt und für niemanden außer für Ordnungskräfte zugänglich. Auch nicht für Claudia Roth, die versuchte, sich als Bundestagsabgeordnete Zugang zu verschaffen.

Ab 15 Uhr wollten die Demonstranten erneut von drei Richtungen auf den Taksim-Platz marschieren. Aber an diesem Tag wollten die Behörden um jeden Preis verhindern, dass sich Menschenmengen bilden. Schon im Ansatz wurde gegen kleinste Gruppen Tränengas eingesetzt. Gouverneur Avni Mutlu warnte, dass „Demonstranten tödliche Waffen eingesetzt“ hätten und dass sich die Bevölkerung von den Protesten fernhalten sollte. Für die Behauptung gab es keinen Beweis, aber es klang nach einer Drohung: Dass die Sicherheitskräfte auch noch brutaler werden und notfalls scharfe Munition einsetzen könnten.

Mutlu riet, möglichst gar nicht auf die Straßen zu gehen. Das kam einer „empfohlenen“ Ausgangssperre gleich, zumindest in den Stadtteilen, wo Proteste gegen Erdogan zu erwarten waren. Aber dort, wo seine große Parteiveranstaltung geplant war, im vorwiegend von AKP-Anhängern bewohnten Stadtteil Zeytinburnu, rief die Regierung die Menschen auf die Straßen.

Bis 16 Uhr Ortszeit war die Rechnung weitgehend aufgegangen. Es war nicht der Tag der „Million“ Demonstranten, sondern ein Tag, an dem vor allem die hartgesottensten Aktivisten Katz und Maus spielten mit der Polizei. Während in Istanbul kleinere Gruppen – aber gegen 17 Uhr doch insgesamt Tausende – von der Polizei gejagt wurden, kam es auch in anderen Städten zu Polizeieinsätzen gegen Demonstranten. Insgesamt wurden bei den Auseinandersetzungen im ganzen Land – ohne die Aktionen von Sonntag – nach Angaben der türkischen Ärztevereinigung mehr als 7000 Menschen verletzt.

Kaum ein Wort internationaler Kritik war am Sonntag zu hören gegen Erdogans Vorgehen. Und so hatte Claudia Roth die Bühne für sich allein. „Das ist Krieg, Krieg gegen die Menschen in der Türkei“, sagte sie. Lange Zeit waren die Grünen und ihre Vorsitzenden Cem Özdemir und Claudia Roth sehr zurückhaltend mit Kritik an der Erdogan-Regierung. Jetzt hat der Ministerpräsident sich Claudia Roth nach ihrer tränenreichen Nacht zur entschlossenen Gegnerin gemacht. Das Vorgehen der türkischen Polizei gegen Ärzte, das Eindringen in Krankenhäuser, sagte sie, sei „ein Kriegsverbrechen“.

In Hamburg demonstrierten am Sonntagabend nach Angaben der Polizei zudem mehrere Hundert Menschen friedlich gegen die Gewalt in der Türkei und benannten einen Park symbolisch in „Gezi Park“ um. In Berlin zogen Hunderte Menschen aus Solidarität mit der Protestbewegung vor die türkische Botschaft.