BKA-Chef Jörg Ziercke warnt in Hamburg vor Gefahr durch Neonazis. Polizisten beobachten Kontakte zu Rocker-Milieu.

Hamburg. Am Ende seines Vortrags erzählt Jörg Ziercke noch eine Geschichte aus Sizilien. Ganz beeindruckt habe er dort in einer Sporthalle gestanden, als der Schulsprecher vorne am Rednerpult seine Wut gegen die Mafia ins Mikrofon rief. Ohne Angst habe er vor 3000 Schülern aus der Region zum Engagement gegen die kriminelle Organisation aufgerufen. Eine junge Politikerin hatte Ziercke damals zu der Veranstaltung eingeladen. 20 Jahre zuvor erschoss die Mafia ihren Vater. Sie erzählte ihm davon. „So viel Mut wünsche ich mir in Deutschland“, sagt Ziercke. Er ist Präsident des Bundeskriminalamts, Deutschlands oberster Polizist. Und er wünscht sich das nicht für den Kampf der Bürger gegen eine Mafia in Deutschland. Sondern für das Eintreten gegen Rechtsextremismus.

Derzeit haben die Behörden in Deutschland 25.000 Personen als Rechtsextremisten erfasst, sagt Ziercke. Für das Jahr 2011 führte der Bericht der Behörden auch 827 Gewaltdelikte mit rechtsextremistischer Motivation, das sind zwei bis drei Angriffe von Neonazis pro Tag. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass die Szene dauerhaft schwächer würde oder sich zurückziehe, sagt er.

Fast eine Stunde lang spricht Ziercke im Rudolf Steiner Haus am Dammtor am Donnerstagmittag über die „neuen Rechten“, die nicht mehr in Springerstiefeln und Bomberjacke auftreten, sondern auch „Flashmobs“ veranstalten oder in den sozialen Netzwerken im Internet aktiv sind. Er nennt viele Zahlen und erklärt die Strategien der Neonazis, die ihre Ideologie nicht mehr hauptsächlich über Parteien oder Vereine verbreiten würden, sondern über Musik-CDs, die sie auf Schulhöfen verteilen, auch an Grundschulen, auf Kinderfesten oder auf Konzerten von Rechtsrock-Bands. „Verantwortung übernehmen im Norden – gegen Rechtsextremismus und Gewalt“ heißt der Fachdialog in Hamburg, zu dem die Behörde für Soziales und Arbeit, aber auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und Landespräventionsräte aus den nördlichen Bundesländern eingeladen hatten. Sozialsenator Detlef Scheele mahnte Eltern, Lehrer, aber auch jeden einzelnen Bürger zu Wachsamkeit beim Eintreten gegen rechte Gewalt.

Auch die Verbindungen zwischen Rechtsextremisten und Rockern von Hells Angels, Bandidos oder Gremium beobachte das BKA derzeit verschärft, sagt Ziercke. Etwa fünf Prozent der 8044 von der Polizei erfassten Rocker hätten Kontakt zu beiden Szenen. Es seien Fälle bekannt, in denen rechtsextreme Bands in Rockerclubs aufgetreten sind. Auch der Verkauf von Waffen durch Rocker an Neonazis sei in Einzelfällen bekannt. Dennoch hebt Ziercke hervor, dass es keine strukturelle Zusammenarbeit der beiden Milieus gebe. Es gehe den Rockern vor allem um das Geschäft und Einnahmen. Die Rockerszene diskutiere zudem Kontakte zu Neonazis kontrovers. Man befürchte Zielscheibe des Verfassungsschutzes zu werden, so Ziercke.

Der in Lübeck geborene BKA-Chef äußert sich auch zum rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund, der auch für die Morde an zehn Menschen verantwortlich sein soll. Am 6.Mai beginnt der Prozess gegen Beate Zschäpe, das letzte lebende Mitglied der sogenannten Zwickauer Zelle, und vier mutmaßliche Helfer des NSU. Die extreme Abschottung der Terrorgruppe habe die Ermittlungen zu der Mordserie erschwert. Der vergleichsweise kleinen Zelle sei es über Jahre gelungen, sich trotz einzelner Kontakte in die Neonazi-Szene hinein vollständig abzuschotten, sagt Ziercke. Der Nationalsozialistische Untergrund unterscheide sich von rechtsextremistischen Gruppen früherer Jahre. „Der NSU ist nach unserer Bewertung eine andere Dimension von Rechtsterrorismus in Deutschland mit atypischem, strategischem Vorgehen.“ Die Serienmorde seien mit „großer Brutalität und Präzision“ begangen worden. Mehr als ein Jahrzehnt war das Trio untergetaucht. Die Polizei suchte die Täter vor allem im Umfeld der Opfer und in der türkischen Gemeinde. Auch das BKA arbeitete über Jahre in einer Sonderkommission. Auf das Neonazi-Trio sind auch sie nicht gestoßen. Nach Auffliegen des NSU wurde vor allem die mangelnde Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden kritisiert. Teilweise wurde die Weitergabe wichtiger Informationen sogar blockiert. Als Reaktion hat das Innenministerium Ende 2011 ein „Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus“ eingerichtet. 40 Sicherheitsbehörden, darunter alle 16 Landeskriminalämter und Verfassungsschutzämter der Länder, aber auch das BKA, Bundespolizei, Zoll und die Generalbundesanwälte seien darin organisiert.

Der BKA-Chef nennt auf der Fachtagung in Hamburg gerade für die dort anwesenden Aktivisten, Lehrer, Politiker keine neuen Zahlen. Auch der Wandel der rechtsextremen Szene weg von plumpen Schlägertypen hin zu einer „nationalistischen Graswurzelbewegung“ ist unter den Experten lange bekannt. Ziercke fasst den Wissensstand seiner Behörde in einer knappen Stunde gut zusammen. Er will damit auch zeigen: Das BKA hat das im Griff, das BKA beobachtet die rechtsextremistische Szene mit 200 Mitarbeitern. Nach all den Pannen, nach all den negativen Schlagzeilen im Zuge der NSU-Mordserie geht es nun für die Sicherheitsbehörden auch darum, Vertrauen zurückzugewinnen. Es geht auch darum, selbst Sicherheit auszustrahlen.