In Umfragen sieht es nicht gut aus für die Sozialdemokraten. Der Spitzenkandidat muss sie vor der Wahl auf Kampf einstimmen. Das ist ihm gelungen.

Augsburg. Ungeachtet miserabler Umfragedaten und persönlicher Zustimmungswerte hat SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gut fünf Monate vor der Bundestagswahl seinen Machtanspruch demonstriert. „Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden“, leitete Steinbrück seine Rede auf dem SPD-Parteitag in Augsburg ein. Unter dem Jubel der Delegierten rief er: „Ich will mit euch gemeinsam unser Land ins Lot bringen.“ Gefragt sei ein „neues soziales Gleichgewicht bei einer guten wirtschaftlichen Entwicklung“.

Er habe es den eigenen Leuten „nicht immer leicht gemacht“, ging Steinbrück nur indirekt auf die diversen bisherigen Pannen während seiner Kandidatur ein. Zur Debatte über den Wahlkampfslogan der SPD, der zuerst von einer Leiharbeitsfirma verwendet worden war, sagte Steinbrück: „Ist das die politische Frage, über die wir uns zentral auseinanderzusetzen haben?“

Deutschland gehe es „gut“, sagte Steinbrück, es sei aber „nicht das coolste Land der Welt“, wie Vizekanzler Philipp Rösler (FDP) kürzlich befunden hatte. „Es ist alles andere als cool, Herr Rösler, dass sieben Millionen Menschen für weniger als 8,50 Euro arbeiten“, sagte Steinbrück. Er warf der schwarz-gelben Koalition mit dem Ruf nach einer Neueinführung der Eigenheimzulage und einer Abschaffung des Soli vor, „teures Blendwerk“ zu präsentieren. „Abwahl lautet die Parole dieser Bilanz!“, rief Steinbrück: „Nichts geht mehr bei der Rente, beim Mindestlohn, bei der Energiewende.“

Steinbrück bemühte sich, Sorgen vor einer übermäßigen Steuerbelastung nach einem SPD-Wahlsieg zu zerstreuen. „Der gut verdienende Facharbeiter wird von unserer Steuerpolitik nicht betroffen“, sagte er, „auch Oma ihr klein Häuschen ist nicht betroffen.“

Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel griff Union und FDP hart an, die das Land in einer „Koalition des Eigennutzes und des Lobbyismus“ regieren würden. Grünen-Parteichefin Claudia Roth – Gastrednerin in Augsburg – rief zur Ablösung der schwarz-gelben Koalition durch eine rot-grüne Bundesregierung auf. „Wir wollen mit euch zusammen den Politikwechsel schaffen“, sagte sie in einem Grußwort. Es war das erste Mal, dass eine Grünen-Vorsitzende auf einem SPD-Bundesparteitag eine Rede hielt.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier erhob den Anspruch auf eine führende Rolle nach der Bundestagswahl. „Ich habe nicht die Absicht, mich aus der vorderen Reihe zurückzuziehen“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Er sei gerne Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Über Funktionen nach der Wahl werde aber geredet, „wenn die Zeit reif ist“. Einstimmig beschloss die SPD ihr Regierungsprogramm (siehe Kasten).

Offiziell handelte es sich um einen Programmparteitag, zu dem die SPD am Sonntagvormittag geladen hatte. Doch das 110-seitige Regierungsprogramm war bereits zuvor weidlich ausdiskutiert worden. Die Blicke richteten sich fast ausschließlich auf Steinbrück. Der angeschlagene Kandidat musste eine gute Rede halten, die eigene verunsicherte Partei motivieren, auf Attacke umschalten. Wieder einmal.

An guten Reden indes hat es Steinbrück noch nie mangeln lassen. Angespannt wirkte er diesmal vor der Rede, doch er machte bei den Delegierten Boden gut. Aber der Reihe nach: Erst einmal trat der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel ans Pult, der am Vortag in der Führungsspitze behauptet hat, es sei ihm „scheißegal“, wenn der Wahlkampfslogan von einer Zeitarbeitsfirma verwendet werde. Klassisch links stieg Gabriel ein, zitierte Bertolt Brecht in dessen Geburtsstadt. „Verändere die Welt. Sie braucht es“, hatte der einst verlangt. „Du bist der bessere Kanzler“, rief Gabriel dem Kandidaten zu, und Steinbrück verbeugte sich sogleich dafür. „Der Wahlkampf geht erst heute los“, sagte Gabriel, der Mann also, für den eigentlich immer Wahlkampf herrscht. Er will die bisherige Talfahrt relativieren, und er versicherte Steinbrück: „Die SPD steht geschlossen hinter dir. Du bist einer von uns. Du kannst dich auf uns verlassen.“

Diese Loyalitäts-Bekundungen kamen etwas bemüht daher, sodass es Claudia Roth leicht fiel, sich abzusetzen. Auch sie beschwor Rot-Grün, erntete für ihre Attacken auf die schwarz-gelbe Koalition viel Beifall und erwähnte doch die Differenzen zur SPD. Die Vorratsdatenspeicherung nannte Roth, und den „Klimakiller Kohle“. Darüber werde man sich heftig auseinandersetzen, rief Roth den Genossen zu, und: „Ihr habt viel mehr Lust, mit uns zu streiten, als euch mit den Schwarzen zusammenzutun!“

Peer Steinbrück stieg in seine Rede mit einem rhetorischen Höhepunkt ein. „Heute beginne ich mal mit dem Schluss“, und dann verkündete er: „Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Beifall brandete auf, die Delegierten erhoben sich. Schon hatte der Kandidat den Saal auf seiner Seite.

Steinbrück schilderte in den nächsten knapp eineinhalb Stunden immer wieder das Schicksal einzelner Menschen, denen er während seiner „Länderreise“ begegnet ist. Es ging da um die Pflegerin Britta, die acht Prozent weniger verdient als ihr männlicher Kollege. Es ging um einen Martin aus Frankfurt, dessen Miete um 30 Prozent erhöht werden soll. Und es ging um den 16-jährigen Bahran Kücüc, der im Saal saß und sich nicht entscheiden kann für den deutschen oder den türkischen Pass. Steinbrück nannte die Lösungen der SPD: Entgeltgleichheitsgesetz, Mietpreisbremse und doppelte Staatsbürgerschaft. Bei den Delegierten kam diese sehr sozialdemokratische Rede gut an.

Vor allem aber impfte Steinbrück seiner Partei Selbstbewusstsein ein. Er attackierte die schwarz-gelbe Koalition, er versprach, mehr für die Frauen zu tun „als die Frau Bundeskanzlerin und ihre Frauenministerin“. Die SPD werde an der Regierung „vieles besser und noch mehr anders machen“. Wenn Steinbrück auf seine „tief verwurzelte Vorstellung von einer friedfertigen Gesellschaft“ verwies, dann klang das so, als wolle er Zweifel zerstreuen an seinem sozialdemokratischen Kern. Er hielt das für geboten.

Für eine „dynamische Wir-Gesellschaft“ warb Steinbrück, für eine „Aufstiegsgesellschaft“. Er rief: „Auf in den Kampf. Noch 161 Tage!“ Für Steinbrück ging es um alles. Gelöst wirkte er, als der Beifall aufbrandet, wieder einmal.