Kalte Progression führt bei Lohnsteigerungen zu geringerem Nettoverdienst. Bundesrat lehnt Reform ab

Berlin. Die Kalte Progression belastet den Bürger stärker als bislang angenommen. Demnach nimmt der Staat über die schleichenden Steuererhöhungen allein im kommenden Jahr über drei Milliarden Euro ein. Das geht aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage des Linken-Bundestagsabgeordneten Axel Troost hervor. Unter der Kalten Progression versteht man den Mechanismus, wenn trotz einer Lohnerhöhung unter dem Strich ein geringeres Netto vom Lohn übrig bleibt, weil ein höherer Steuertarif und die Inflation den Gehaltszuwachs auffressen. Die höheren Belastungen treffen sowohl Gutverdiener als auch Durchschnittsverdiener.

Die Kalte Progression ist schon lange ein Streitthema zwischen Regierung und Opposition. Die schwarz-gelbe Koalition hatte im vergangenen Jahr einen Versuch unternommen, die Steuertarife der Inflation anzupassen war aber am Widerstand der Opposition im Bundesrat gescheitert. Die nun veranschlagten drei Milliarden Euro, die die Kalte Progression den Bürgern 2014 an Kaufkraft entzieht, sind deutlich mehr als bislang angenommen.

Das Bundeswirtschaftsministerium kalkuliert intern mit geringeren Belastungen. Demnach würde die Kalte Progression im kommenden Jahr nur mit 2,5 Milliarden Euro die Bürger belasten, wie aus einem internen Vermerk des Ministeriums hervorgeht. Würde man die Kalte Progression abschaffen, würden die Bürger in diesem Jahr um 1,2 Milliarden Euro entlastet, im kommenden Jahr um insgesamt 3,7 Milliarden und ab 2015 um 5,3 Milliarden. Laut der Antwort des Bundesfinanzministeriums nimmt der Staat zwischen 2011 und 2013 rund neun Milliarden Euro durch die Kalte Progression mehr ein. Auf ähnliche Zahlen kommen Ökonomen. Seit den Anpassungen beim Einkommenssteuertarif im Jahr 2010 haben sich die Verbraucherpreise um rund 4,5 Prozent erhöht.

„Daraus resultierten Mehreinnahmen aufgrund der Kalten Progression in Höhe von knapp acht Milliarden Euro im Jahr 2012“, heißt es im jüngsten Konjunkturbericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI). Im Jahr 2014 „werden sich die seit 2011 aufgelaufenen progressionsbedingten Mehreinnahmen auf rund 14 Milliarden Euro belaufen“.

Viele Ökonomen fordern schon lange, die Kalte Progression zu beseitigen. Zwei Gründe sprechen aus ihrer Sicht vor allem für eine Abschaffung: Zum einen nimmt der Staat durch die Kalte Progression automatisch immer mehr ein – dadurch sinkt der Druck, schmerzhafte Einsparungen im Haushalt vorzunehmen. Der zweite Grund: Die Steuerbelastung solle sich an der realen Leistungsfähigkeit eines Steuerzahlers orientieren, also unter Berücksichtigung der Preissteigerung – und nicht an dessen nominaler Lohnsteigerung, schreibt etwa der Sachverständigenrat in seinem Gutachten.

FDP und CDU wollen nach der Wahl einen neuen Versuch starten, die Kalte Progression abzuschaffen. Die FPD hat die Forderung in ihr überarbeitetes Wahlprogramm geschrieben. Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist für eine Abschaffung: „Ich bin auch sehr dafür, dass wir in der nächsten Wahlperiode einen neuen Anlauf machen, die Kalte Progression bei der Einkommenssteuer zu beseitigen“, sagte Schäuble kürzlich der „Welt am Sonntag“.

Allerdings hält Rot-Grün auf absehbare Zeit vorerst die Mehrheit im Bundesrat. Die Opposition hatte die Abschaffung der Kalten Progression abgelehnt, weil sie keine neuen Löcher im Haushalt schaffen wollte und im Gegenzug für eine Abschaffung eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes forderte.

Diese Pläne wollen SPD, Grüne und Linke auch in ihr Wahlprogramm schreiben. So soll nach dem Plan der Sozialdemokraten der Spitzensteuersatz auf 49 Prozent steigen. Parteichef Sigmar Gabriel sagte, dieser Satz gelte ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen eines Alleinstehenden von 100.000 Euro. Gabriel sagte: „Wer als Single weniger als 64.000 verdient, wird von unseren Plänen überhaupt nicht getroffen. Bei 70.000 Euro sind es 34 Euro. Davon sind zehn Prozent der Steuerpflichtigen betroffen.“ Die Mittelschicht sei von diesen Plänen nicht betroffen, sie werde bei einer Regierungsbeteiligung der SPD sogar angetastet, weil die Kitagebühren abgeschafft werden sollen.

Die Grünen wollen im Fall einer Regierungsbeteiligung einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent durchsetzen – und zwar schon ab einem zu versteuernden Einkommen von 80.000 Euro. Wer also ein monatliches Bruttoeinkommen von 5500 Euro hat, könnte 1000 Euro mehr im Jahr an den Fiskus abführen. In einem internen Vermerk des Wirtschaftsministeriums heißt es, die Steuerpläne der Grünen würden den Steuerzahler rund 32 Milliarden Euro kosten. Dabei sei die von den Grünen zur Entlastung geplante Anhebung des Grundfreibetrags mit 3,5 Milliarden Euro bereits gegengerechnet.

Die Grünen planen außerdem eine Anhebung des steuerfreien Existenzminimums von 8130 auf 8700 Euro, was Kleinverdiener Steuern sparen lassen würde. Beobachter befürchten, dass die Grünen mit ihren Steuerideen sogar die eigene Klientel erheblich treffen würden. Denn zu den Wählern der Grünen zählen zu einem Großteil auch wohlbetuchte Bürger.