Ein Quickborner Gymnasium bietet beides an: Abitur nach acht Jahren und nach neun. Ein Friedensangebot für die zerstrittene Bildungsrepublik.

Hamburg/Quickborn. Für Michael Bülck geht es nicht um besser oder schlechter, um dümmer oder schlauer, um freier oder gestresster. Das Y ist ein Buchstabe mit einem Stamm und zwei Linien nach oben, nach links und rechts. Und genauso sieht Bülck das: Ob G8 oder G9, das Abitur nach acht oder nach neun Jahren am Gymnasium, es sind zwei Wege zum gleichen Ziel. In Bülcks Berufsleben spielt der Buchstabe Y eine besondere Rolle: Y-Modell, so heißt das Projekt am Elsensee-Gymnasium in Quickborn, das Bülck leitet. Beides ist hier möglich, der kurze Weg zum Abschluss oder der lange. An einer Schule. In einem Haus.

Schulpolitik ist ein Schlachtfeld. Mit reformierten Lehrplänen gewinnen Parteien Wahlen, oder verlieren sie. In den Debatten über das richtige Lernen gibt es viel Gegeneinander und wenig Entweder-Oder: die Einführung der Stadtteilschule, die Abschaffung der Hauptschule, kleinere Klassen, bessere Lehrer - all das sind nur Schlagworte einer Debatte, die aus der Bildungsrepublik Deutschland einen Flickenteppich der Schulformen gemacht hat. Der Streit um G8 und G9 - er ist ein neuer Riss in diesen Teppich.

Hamburg war eines der ersten Bundesländer, das sich vom Abitur nach neun Jahren verabschiedete. 2002 setzte Schulsenator Rudolf Lange die Reform in der CDU-FDP-Schill-Koalition ohne Ausnahmen durch. Für alle gut 60 Gymnasien in der Stadt - während an den Gesamtschulen weiterhin das Abitur nach 13 Jahren möglich war.

Doch auch hier steht nun die Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren an Gymnasien zur Debatte. Zwei von drei Menschen in Hamburg sagen in einer Umfrage: zurück! Eltern sorgen sich um die Jugend, die ihren Kindern durch den Schulstress genommen werde und auch um das Grundwissen, das Schülern durch das Turbo-Abi fehlen könnte. Einige Politiker und Forscher stimmen in die Warnrufe ein und fordern eine Rückkehr. Andere warnen vor einem erneuten Schulchaos. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe verweist auf die Kess-Studie, die zeigt, dass sich die Leistungen der Schüler auch im G8-System nicht verschlechtert haben. Im Gegenteil: Sie sind sogar leicht besser.

Schulleiter Bülck sagt: "Wir können zeigen, dass eine Schule wie unsere mit zwei Wegen ebenfalls sehr gut funktioniert." Das Y-Modell, man sieht es nicht in der Sporthalle einer Schule, nicht in den Klassenzimmern oder im Büro des Schulleiters. Es ist vor allem eine Frage des Lehrplans und der Inhalte. G8-Schüler beginnen am Elsensee-Gymnasium schon in Klasse 5 mit dem Fach Geschichte, und in der sechsten Klasse mit der zweiten Fremdsprache, ein Jahr früher als die G9-Schüler. Auch das Fach Chemie lernen die Kinder im G8-Modell schon ab der achten Klasse, die anderen erst in der neunten. Teilweise unterrichten die Lehrer denselben Lernstoff, nur um ein Jahr zeitversetzt. In einigen Fächern ist der Unterricht neu strukturiert. Auch die Inhalte.

Auf der Internetseite der Schule steht ein typischer Stundenplan eines Fünftklässlers. Wenn Schüler im G8-Modell bis nachmittags kurz vor halb drei im Unterricht sitzen, haben sie eine längere Mittagspause. Vor allem in den Jahrgängen sechs bis acht ist das Stundenpensum höher, meist drei oder vier Stunden in der Woche. "Das Argument, das Kind habe durch das verkürzte Abitur keine Zeit für Hobbys oder Freunde, hören wir oft", sagt Mittelstufenkoordinator Thomas Schilling. Doch die Schüler im G8-Modell würden zeigen, dass auch sie über ein gutes Maß an Freizeit verfügen. Der Unterricht in den beiden Jahren der Oberstufe ist dann wieder für alle Schüler identisch.

An vier Schulen in Schleswig-Holstein testen Gymnasien das Y-Modell. In Quickborn wurde das Projekt vor elf Jahren gestartet - damals, um das verkürzte Abitur G8 zu erproben. In Hessen und Bayern sind dieses Jahr Wahlen, auch dort ist das Thema auf der Agenda. Flexibilisierungsjahr, nennen das Bildungspolitiker. Den "alternativen Weg". In immer mehr Bundesländern wollen Politiker Schülern die Wahl geben, ob sie nach acht oder neun Jahren das Abitur absolvieren. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein Dutzend G9-Modellversuche, in Baden-Württemberg bieten mehr als 20 Gymnasien den langen Weg zum Abitur an. Rolle rückwärts im Bildungssystem, nannte der "Spiegel" unlängst diesen Trend.

Auch in Hamburg? SPD, CDU und FDP halten am Turbo-Abi fest. Sie befürchten auch eine Schwächung der Stadtteilschulen, die das Abitur nach 13 Schuljahren anbieten. Dieses Alleinstellungsmerkmal sehen sie in Gefahr. Zwar ist Senator Rabe kein Freund der Schulzeitverkürzung. Sein Weg geht aber nicht zurück zum alten System - er will vor allem Schüler der Klassen sieben und acht beispielsweise durch Entzerrung von Klassenarbeiten entlasten.

Doch bei den Eltern wächst der Protest. Seit einigen Wochen fordert eine Bürgerinitiative die Rückkehr zum G9, zumindest aber die Wahlmöglichkeit zwischen beiden Wegen. Eine Petition läuft, ein Volksentscheid ist möglich. Auch das Elsensee-Gymnasium in Quickborn spürt den Trend zum längeren Lernen an der Schule. Vor einigen Jahren gab es noch doppelt so viele Klassenzüge für das Turbo-Abitur, heute ist es umgekehrt.

Thomas Trautmann sieht in dem Y-Modell einen Weg zum Waffenstillstand im Kampf um das richtige System an Schulen. Er ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. "Zwei Wege an einem Gymnasium nehmen Druck aus dem Kessel." Für Lehrer, für Eltern, für Schüler. Schüler seien verschieden. "Das bessere Schulsystem gibt es nicht." Weder G8 noch G9. Das Y-Modell erkennt das an. Und arbeitet damit. Entscheidend sei, dass Lehrer, Eltern und Schüler gemeinsam herausfinden, welcher Weg der richtige ist: Was traust du dir zu? Lernst du lieber langsamer? Wie wichtig ist dir Freizeit? "Kinder können auch in jungen Jahren ihre Sorgen und Wünsche klar zum Ausdruck bringen", sagt Trautmann. Und: Auch zu langsames Lernen und Langeweile könne zu Stress bei Schülern führen. Manchmal ist also G8 die Variante mit weniger Stress für das Kind. Was für Trautmann für Modelle wie die Y-Schule entscheidend ist, nennt er "den pädagogischen roten Knopf". Die Chance auf einen Wechsel von G8 zu G9 oder umgekehrt - sobald ein Kind merkt, dass das Lerntempo zu schnell oder zu langsam ist. In begründeten Einzelfällen ist dies am Elsensee-Gymnasium möglich, einen Rechtsanspruch gibt es nicht.

Nur auf eine Gefahr weist auch Trautmann hin: Bei G8 muss der gleiche Inhalt in kürzerer Zeit vermittelt werden. Dadurch können manche Inhalte nur oberflächlich behandelt werden. Vieles hänge davon ab, wie selbstständig ein Schüler den Lernstoff zuhause noch vertieft.

Vor allem für Flächenländer wie Schleswig-Holstein hat das Y-Modell einen weiteren Vorteil: Viele Schüler haben lange Wege morgens zur Schule und nachmittags zurück. Andere wiederum wohnen ganz in der Nähe. Auch in Quickborn entscheiden sich manche Eltern für G9, wenn der Weg zur Schule weit ist. So bleibt mehr Freizeit.

Doch funktioniert die Y-Schule auch in Hamburg, wo es Stadtteilschulen gibt? Zwar hält die G9-Initiative in Hamburg das Modell für einen gangbaren Weg, festgelegt haben sie sich aber noch nicht. Denn die Schullandschaft in der Metropole ist eine ganz andere als im Flächenstaat. Und: Das Projekt aus Schleswig-Holstein würde ganz entscheidende Bedenken bei SPD, CDU und FDP nicht ausräumen. Sie fürchten auch hier, dass leistungsstärkere Schüler von den Stadtteilschulen fernbleiben. Das Y-Modell würde die gerade etablierte Stadtteilschule schwächen. Bietet das Gymnasium in Hamburg beides an, G8 und G9, könnten sich vor allem mögliche leistungsstarke Stadtteilschüler künftig doch für das Gymnasien entscheiden. Der schon jetzt starke Zulauf an Hamburger Gymnasien bekäme so einen weiteren Schub - dem Projekt Stadtteilschule aber gingen lernstarke Schüler abhanden. Letzter Ausweg könnte die Einführung einer Notenschwelle für den Zugang zum Gymnasium sein, um die Stadtteilschulen zu retten. Doch niemand wird sich trauen, die freie Elternentscheidung für die weiterführende Schule aufs Spiel zu setzen.

2014 will die neue Kieler Landesregierung von SPD, Grünen und SSW die Schulen reformieren. Dabei steht auch das Y-Modell zur Debatte. Nun hat die Opposition erreicht, dass sich bis 2014 erst einmal nichts mehr ändert. Schulleiter Michael Bülck sieht darin "erste hoffnungsvolle Anzeichen" in Kiel. Er, seine Kollegen und vor allem die Schüler dürfen weiter beide Wege zum Abitur gehen, den langen und den kurzen. Wenigstens bis zur nächsten Reform.