Der Bundespräsident mahnt Konsequenzen aus der schleppenden Aufklärung der Mordserie an. Türkische Gemeinde fordert eine Grundsatzrede.

Berlin. Joachim Gauck hat seine Mühe mit den Themen Integration, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Erstaunlich für einen Mann, der fast zehn Jahre lang dem Verein "Gegen Vergessen - für Demokratie" vorstand. Der gleich im März 2012 in seiner ersten großen Rede als Bundespräsident den Rechtsextremisten zurief: "Euer Hass ist unser Ansporn." Der beim Besuch eines Asylbewerberheims mehr Offenheit der Gesellschaft für Ausländer fordert. Doch der Kampf gegen rechts wird für ihn immer wieder zur schwierigen Mission.

Als er für Montag die Angehörigen der NSU-Terroropfer ins Schloss Bellevue lud, gab es sogar Absagen. Einige wenige nur, aber sie sorgten für Verstimmung. Aysen Tasköprü, die Schwester des in Hamburg Ermordeten, wollte ihre Anwältin beim Gespräch dabeihaben (das Abendblatt berichtete). Das wurde mit Hinweis auf die dann unübersichtlich große Zahl von Teilnehmern abgelehnt. Sie schrieb Gauck auch einen Brief, in dem sie ihm vorwarf, sich nur für die Angehörigen zu interessieren, weil der Terror des Trios ein politisches Thema sei: "Was wollen Sie an unserem Leid ändern? Glauben Sie, es hilft mir, wenn Sie betroffen sind?"

Die Beauftragte der Bundesregierung für die Angehörigen der NSU-Opfer, Barbara John, sprang Gauck bei. Bei der Begegnung komme es schließlich darauf an, dass der Bundespräsident "ganz offen ist, nachfragt und viel zuhört, damit die Menschen wirklich wahrgenommen werden".

Im Mittelpunkt der Treffens stand der Frust und Zorn der Angehörigen, die mehr als ein Jahr nach Bekanntwerden des rechtsterroristischen Hintergrunds der Morde noch immer erschüttert sind über Fahndungspannen. Jahrelang richtete sich der Verdacht der Ermittler irrtümlich auch gegen Familien der Opfer. Spuren ins rechtsextreme Milieu wurden ignoriert.

Der Bundespräsident sicherte den Angehörigen zu: "Ich werde genau verfolgen, ob staatliche Stellen ausreichend aufklären und Fehler nennen. Auch werde ich in solchen Fällen nach Konsequenzen fragen."

Der Bundespräsident wurde mit vielen individuellen Lebensgeschichten konfrontiert, mit den Traumata der Hinterbliebenen. Er versprach, sich bestimmter Fälle anzunehmen. Die Begegnungen wurden als intensiv und bewegend beschrieben, ans Mikrofon treten wollte trotz Aufforderung Gaucks am Ende doch keiner der Angehörigen.

Gauck sagte den Gästen: "Ich kann Ihnen nicht versprechen, Ihnen Sorgen nehmen zu können, die Sie bis heute bedrücken. Aber ich möchte Ihnen allen sagen, als Bundespräsident: Ich werde tun, was ich kann, dass unser Land - unser gemeinsames Land! - nicht vergisst, was geschehen ist! Ich will mithelfen, dass Ihr Leid weiter wahrgenommen und anerkannt wird. Und dass aufgeklärt wird, wo es Fehler und Versäumnisse gegeben hat, dass darüber gesprochen und wenn nötig auch gestritten wird, was wir daraus lernen müssen!"

Gauck nutzte die Begegnung für ein klares Bekenntnis zu Toleranz und Vielfalt. Doch der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, forderte noch klarere Worte, "vielleicht eine Berliner Rede zum Thema Rassismus in Deutschland". Das Verhältnis der Türkischen Gemeinde zu Gauck ist nach wie vor etwas unterkühlt. Im November 2012 hatte der Bundespräsident ein von der Gemeinde geplantes Treffen mit den Hinterbliebenen der Neonazi-Opfer abgelehnt. Damals hieß es aus dem Präsidialamt, Gauck wolle "eigene Akzente" setzen.

Aus der Türkischen Gemeinde war zu hören, Gaucks Vorgänger Christian Wulff habe einen besseren Draht zu Migranten gehabt. Es war Wulff, der die Trauerfeier für die zehn Opfer im Februar 2012 am Berliner Gendarmenmarkt möglich gemacht hatte.

Hin und wieder wird Gauck vorgeworfen, er habe als Ostdeutscher ein anderes Verhältnis zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Er selbst hatte in Rostock im August festgestellt: "Die Kultur der offenen Bürgerdebatte war uns fremd, das Zusammenleben mit Fremden kannten wir fast nicht", sagte er zum 20. Jahrestag der rassistischen Angriffe in Rostock-Lichtenhagen. "Die Angst vor dem Fremden ist tief in uns verwurzelt. Wir würden wohl irren, wenn wir davon ausgingen, dass sie sich gänzlich überwinden ließe."

Am Montag zeigte sich Gauck tief betroffen vom Schicksal der Opferfamilien. Er sagte, er frage sich, wie "hasserfüllte Extremisten über viele Jahre hinweg unbehelligt in unserem Land leben, rauben und morden" konnten. Die Familien hätten Deutschland und seinen Institutionen vertraut. Es dürfe nicht sein, "dass sich Menschen, die zum Teil schon seit Generationen in Deutschland leben, fragen müssen, ob sie hier wirklich zu Hause sind und ob sie sich auch sicher fühlen können".

Die drei Absagen spielten am Ende keine große Rolle. Das Treffen dauerte länger als geplant. Es waren vor allem die traurigen Geschichten von Verlust und Ausgrenzung, die Gauck in Erinnerung bleiben werden.