In den Medien ist eine große Debatte entbrannt, über Sexismus in der Politik, im Journalismus, generell im Beruf. Zwei Abendblatt-Ansichten.

Nach Vorwürfen gegen Piratenpolitiker und FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle ist eine Sexismus-Debatte entbrannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warb für einen professionellen Umgang zwischen Politikern und Journalisten. Im Internet und bei Twitter berichten Tausende von eigenen Erfahrungen. Auch beim Hamburger Abendblatt wird eifrig diskutiert.

Belästigungen gibt es nicht nur in der Politik, sondern überall. Nina Paulsen meint: Reden wir endlich darüber!

Ich bin dankbar, dass zwei Journalistinnen die Debatte angestoßen haben. Bin dankbar für den Mut von "Spiegel"-Kollegin Annett Meiritz und "Stern"-Kollegin Laura Himmelreich. Sehr unterschiedlich haben sie über Sexismus im Berliner Politikbetrieb geschrieben. Über Politiker von Piratenpartei und FDP, die Grenzen überschritten haben.

Ihre zum Teil kontrovers diskutierten Berichte haben dafür gesorgt, dass wieder über sexuelle Belästigung gesprochen wird. Sie kann nicht nur Journalistinnen in der testosterongeprägten Hauptstadtszene treffen, sondern jede Frau, an jedem Tag. Halten wir doch einen Moment inne und denken nach.

Was ist Sexismus? Bedeutet er, von einem Mann betatscht zu werden? Sich einen obszönen Kommentar anhören zu müssen? Ist Sexismus schon ein Blick ins Dekolleté? Der eigene innere Kompass sagt einem bei diesen Beispielen, dass sie zumindest nicht in Ordnung sind. Ganz klar kann diese Fragen aber nur jede Frau für sich selbst beantworten - was eine eindeutige Festlegung roter Linien schwierig macht.

Denken wir also weiter nach. Wenn das Empfinden von Sexismus subjektiv ist, beginnt dieser immer dann, wenn sich bei einer Frau in einer bestimmten Situation ein ungutes Gefühl einstellt. Wenn sie überlegen muss, wo sie nachts eigentlich noch langgehen kann. Wenn sie im Dunkeln den Schritt beschleunigt, damit der Mann hinter ihr nicht näher kommt. Wenn sie sich in der U-Bahn die Kopfhörer aufsetzt und die Musik laut dreht, um die Kommentare der grölenden Jungmännergruppe nicht hören zu müssen.

Der Duden beschreibt Sexismus als "Diskriminierung, Unterdrückung, Zurücksetzung, Benachteiligung von Menschen, besonders der Frauen, aufgrund ihres Geschlechts". Jedes der genannten Beispiele benachteiligt Frauen. Man kann davon ausgehen, dass die meisten von solchen Alltagserlebnissen nicht aus der Bahn geworfen werden. Man lernt eben, mit solchen Dingen umzugehen und sie zu den Akten zu legen. Wirklich besser macht das die Sache aber nicht.

In einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums 2004 erklärten 58 Prozent von 10.000 befragten Frauen, dass sie schon einmal sexuell belästigt worden seien. Mehr als jede Zweite! Und doch wird so selten über Sexismus gesprochen. Keine Frau möchte als humorlos, verbiestert, prüde oder verklemmt gelten, wenn ihr ein Witz oder eine Berührung nicht gefallen hat. Schon gar nicht bei der Arbeit. Und wenn sie sich im Nachhinein beschwert, folgt die Unterstellung, dem alltäglichen Umgang nicht gewachsen zu sein. Nicht schlagfertig genug sein. Mit Lappalien wie einem "Herrenwitz" müsse man doch umgehen können.

Sexismus hat oft mit Macht zu tun. Das liegt nicht nur an der männlichen Überlegenheit an körperlicher Kraft. Nach wie vor sind die meisten Entscheider Männer. Solange Frau darauf angewiesen ist, es sich nicht mit dem Chef zu verscherzen, wird sie bei Sexismus den Mund halten. Beim Online-Dienst Twitter berichten dagegen seit Donnerstagabend unter dem Stichwort "Aufschrei" Tausende Frauen von ihren Erlebnissen. Von Händen, wo sie nicht hingehören, von Sprüchen, von Übergriffigkeiten, sogar von sexueller Gewalt. Lange hat es in sozialen Netzwerken nicht mehr eine derart große Bewegung gegeben.

Ich kann mir vorstellen, dass es für Männer nicht immer einfach ist, die Grenzen zu erkennen. Zu wissen, wann man einer Frau zu nahe tritt. Sex ist schließlich überall. Auf Zeitschriftentiteln, im Fernsehen, im Internet sowieso. Sex nicht zu tabuisieren ist auch eine Errungenschaft. Umso wichtiger ist es aber, Sensibilität dafür zu schaffen, dass es trotzdem Grenzen gibt. Reden wir darüber. Jetzt.

Aus der Brüderle-Debatte sollte die heiße Luft herausgelassen werden, findet Christoph Rybarczyk

Die Sache mit dem blauen Pullover ist schon heikel. "Der ist aber hübsch." Das war das Entree für ein nettes Kompliment unter Arbeitskollegen. Dabei blieb es nicht. "Der steht dir aber gut." Hier wird's persönlich zwischen dir und mir. "Diese engen Sachen kannst du gut tragen." Sagt man da noch Danke? Danke, dass das mal einer sagt, dass es einem auffällt - oder danke, solche Sprüche sind das Letzte?

Mir ist dieser Dialog passiert. Den blauen Pullover hatte allerdings ich an, und eine Kollegin fühlte sich zu diesen Bemerkungen hingerissen. Was Männer und Frauen am Arbeitsplatz nach meiner Ansicht unterscheidet: Ich fühle mich geschmeichelt, eine Frau kann sich vermutlich mit Recht sexuell belästigt fühlen. Der Kampfbegriff vom "politisch korrekten Verhalten" hilft uns nicht weiter. Denn was im 21. Jahrhundert in einer offenen Gesellschaft zwischen zwei aufgeklärten Menschen geschieht, geht normalerweise immer nur diese beiden etwas an.

Doch Frauen und Männer nehmen diese Situationen unterschiedlich wahr. Wie in anderen Fällen auch hilft das Reden darüber. Es kann natürlich peinlich werden, wenn man sich ertappt fühlt. "Entschuldigung, war nicht so gemeint" und "Schon vergessen" gehören ins Standard-Repertoire der Etikette. Jedoch ist es am Arbeitsplatz und bei Jobkontakten deshalb so verzwickt, weil es Abhängigkeiten und Hierarchien gibt.

Und es wird auch zwischen Mann und Frau nicht leichter, je lockerer man die Befehlsketten handhabt in der modernen Großraum-Gruppe geschlechtlich, ethnisch und sonst wie gemischter Teams. Kurz gesagt: Über den Geschlechtergraben kommen wir nicht hinweg.

Die Geschichte des FDP-Häuptlings Rainer Brüderle, der vor einem Jahr eine "Stern"-Kollegin belästigt haben soll, ist mal wieder eine über Ungleichgewichte zwischen "Vertragspartnern". Nachgefragt war auf der einen Seite zwischenmenschliche Zugewandtheit, auf der anderen ein Informationsvorsprung. Aus dieser komplexen Umarmung zwischen Politik und Medien kann man sich kaum herauswinden. Hier wurden offenbar professionelle und körperliche Nähe durcheinandergebracht. Vielleicht ging es auch nur um das Erkaufen von Sympathie mit unlauteren Mitteln.

Schon mit wenigen Berufsjahren können über derlei Begebenheiten alle Journalistinnen und Journalisten berichten. Doch aus dieser peinlichen Debatte gehören etliche Kubikkilometer heiße Luft herausgelassen.

Man kann vor allem bei Verhandlungen oder im Büroalltag nicht sagen, wo die Grenzen verlaufen. Denn bisweilen - das gibt es auch beim Hamburger Abendblatt - entstehen aus Kollegialität Partnerschaften, Ehen und Kinder. Schwierig ist es dort, wo Frauen von männlichen Chefs nach Schwangerschaftsplänen gefragt werden (und Männer selten). Oder dort, wo Frauen ein Karriereplan vorgeschlagen wird. "Dann machen Sie das so, dann kriegen Sie Kinder, dann kommen Sie wieder ..." Das ist entwürdigend und ignorant.

Mir gefällt die Unbekümmertheit im Sport: Fußballer grabbeln ihre Mitspieler an, Boxer umarmen sich, im Tennis wird geküsst. Sicher, das ist zumeist gleichgeschlechtlich - aber wen stört's? Hysterie ist: wenn Männer Sorge haben, dass ihnen Sexismus unterstellt werden kann. Sie besteigen keinen Fahrstuhl mit nur einer Mitfahrerin, öffnen die Bürotür, wenn eine Kollegin zu Gast ist.

Sich aus dieser Verklemmung zu lösen, dabei können einem Menschen helfen. Sie heißen Frauen. Und zum Klima in der Arbeitswelt, das wissen wir aus der Atmosphärenforschung, kann jede/r einen Teil beitragen.