Forscher: Keine Reform hat so viel Widerstand ausgelöst wie das G8-Gymnasium. Althusmann will in Niedersachsen an Turbo-Abi festhalten.

Berlin/Hamburg. Die auf zwölf Jahre verkürzte Schulzeit bis zum Abitur ist nach Aussage des Schulforschers Klaus-Jürgen Tillmann miserabel vorbereitet und bietet weiter Anlass zur Kritik. "Es gibt in der Schulpolitik bisher keine andere flächendeckend durchgeführte Änderung, die bei den Eltern auf so viel Skepsis und Widerstand gestoßen ist", sagte Tillmann. "Die Absetzbewegungen einiger Kultusminister und die Zulassung von Alternativen in fast allen Bundesländern, das Abitur auch wieder nach 13 Schuljahren ablegen zu können, sind deshalb politisch und pädagogisch gut verständlich", sagte der Schulforscher.

Unter anderem hatte der Landtag in Hessen kurz vor Weihnachten noch eine Wahlmöglichkeit ab dem nächsten Schuljahr beschlossen. Tillmann verwies auf eine aktuelle Umfrage unter Eltern. Demnach wünschen im Westen 80 Prozent und im Osten 50 Prozent die Rückkehr zu 13 Schuljahren. Die Verdichtung des Lehrstoffs und die Auflage der Kultusministerkonferenz, die bundesweit vereinbarte Pflichtstundenzahl bis zum Abitur im verkürzten Zeitraum zu absolvieren, führe an den Gymnasien häufig zu einem Sieben- bis Achtstundentag - und damit zu regelmäßigem Nachmittagsunterricht. Außerdem wird beklagt, dass die Kinder oft keine Zeit mehr für den Sportverein oder die außerschulische Musikerziehung hätten.

"Es fehlen Aufenthaltsräume, es gibt kaum Mensen", bemängelte Tillmann. Auch hätten viele Gymnasiallehrer nicht flexibel genug reagiert und trotz der längeren Schultage die gleiche Menge an Hausaufgaben aufgegeben.

Viele Eltern hätten zudem mit einem inneren Widerspruch zu kämpfen. "Auf der einen Seite haben sie liberale Erziehungsvorstellungen und wollen ihr Kind nicht unter übermäßigen Leistungsstress setzen." Auf der anderen Seite hätten sie aber die Abiturnoten und die Studienzulassung im Blick.

Althusmann will an Turbo-Abi festhalten

Ungeachtet aller elterlichen Vorbehalte will Niedersachsens Kultusminister Bernd Althusmann (CDU) am Turbo-Abi festhalten. Die Unterschiede zwischen Schülern, die nach 12 oder 13 Jahren ihr Abitur machten, seien nahezu unerheblich, sagte er dem Radiosender NDR-Info am Freitag. „Insofern planen wir in Niedersachsen nicht zurückzukehren zum Abitur nach 13 Jahren“, sagte er. Die verkürzte Variante des Abiturs sei „machbar und möglich“. Er warnte zudem davor, die Belastungen für Schüler zu dramatisieren.

In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen laufen derweil die an einigen Gymnasien zunächst testweise wieder eingeführten G9-Modellzüge über. Auf Anhieb hätte man gleich die doppelte Zahl genehmigen können. Noch vor Weihnachten beschloss der hessische Landtag Wahlfreiheit für Schulen und Eltern ab dem nächsten Schuljahr.

In Schleswig-Holstein ist das Abitur an einzelnen Gymnasien schon längst wieder auch nach 13 Jahren möglich. Bayern plant ein "Flexibilisierungsjahr". Aufgeschreckt hatte das Ministerium in München Meldungen über zunehmenden Abi-Stress und hohe Durchfallquoten. Und an den Berliner Gymnasien mit Turbo-Abi gab es im vergangenen Jahr erstmals mehr freie Plätze als an den integrierten Schulformen - wo die Reifeprüfung unverändert erst nach 13 Schuljahren abgelegt wird. Ende 2001 hatte die erste PISA-Studie gezeigt, dass 15-Jährige in Deutschland mit ihren Schulleistungen im weltweiten Vergleich allenfalls Mittelmaß sind. Der Schock war noch nicht verhallt, da verabredeten die Ministerpräsidenten in abendlicher Runde, die Schulzeit bis zum Abitur bundesweit auf zwölf Jahre zu verkürzen - wie es in der DDR üblich war. Die überraschten West-Kultusminister mussten sich eilig daransetzen, die Weisung ihrer Regierungschefs umzusetzen.

Doch statt die Unterrichtsinhalte zu überprüfen und das Volumen zu reduzieren, wurde vielerorts die von der Kultusministerkonferenz vorgegebene Pflichtzahl von 265 Lehrplanstunden bis zum Abitur einfach von neun auf acht Jahre übertragen. Besonders in der Mittelstufe, wenn Jugendliche außer mit dem Schulstoff auch mit der Pubertät zu kämpfen haben, kommt es zu einer zusätzlichen Belastung.

Die Rufe der Wirtschaft nach immer jüngeren Abiturienten verfangen bei den meisten Eltern nicht. In Bayern zum Beispiel lassen immer mehr Familien nach Beobachtungen der Gewerkschaft GEW ihre Kinder bereits bei der Grundschuleinschulung mithilfe ärztlicher Atteste ein Jahr zurückstellen, "um ihnen noch ein wenig Schonraum zu bieten".