Schüler des Lise-Meitner-Gymnasiums wollen erst nach neun Jahren das Abitur machen. Auch das Turbo-Abi läuft aber offenbar rund.

Norderstedt. Wissen wir genug? Haben die anderen einen Lernvorsprung, und können wir den einholen? Lena und Paulina blicken leicht angespannt und sorgenvoll auf das nächste Schuljahr. Die beiden 15 Jahre alten Schülerinnen des Lise-Meitner-Gymnasiums werden nach den Sommerferien in die Oberstufe wechseln und zusammen mit den Jugendlichen lernen, die nicht nur älter sind, sondern auch ein Jahr Unterricht mehr hinter sich haben - eine Sondersituation, die für alle Gymnasien in Schleswig-Holstein zutrifft. Zum Schuljahr 2008/09 hat das nördlichste Bundesland das Turbo-Abi eingeführt, zum neuen Schuljahr treffen die Schnell- und die G9-Lerner aufeinander, immerhin landesweit rund 20 000 Jugendliche.

Heike Schlesselmann, Leiterin des Coppernicus-Gymnasiums, beruhigt: "Wir haben in den jetzigen neunten und zehnten Klassen in Mathe und Englisch die gleichen Arbeiten schreiben lassen. Das Ergebnis ist, dass die Leistungen nahezu identisch sind." Natürlich gebe es stärkere und schwächere Schüler, doch die verteilten sich auf beide Jahrgänge gleichermaßen. Mit gezieltem Förderunterricht sollen die Lücken geschlossen werden.

Natürlich seien die G8-Schüler stärker gefordert. Schon in Klasse sechs und nicht erst wie bisher in der siebten Klasse komme die zweite Fremdsprache hinzu, die Jungendlichen müssten an drei Tagen bis 15.30 Uhr in der Schule bleiben, anschließend noch die Hausaufgaben erledigen. Da bleibt, so die Schulleiterin, weniger Zeit für Hobbys und Freunde. Dennoch habe sich das Turbo-Abi eingelaufen, Beschwerden wegen des erhöhten Lerntempos gebe es nur vereinzelt.

Das bestätigen die Leiter der beiden anderen Norderstedter G8-Gymnasien: "Es gab ja mal die Bezeichnung 'Lernmaschinen' für die G8-Schüler. Die trifft nun aber überhaupt nicht zu", sagt Gerhard Frische, Leiter des Gymnasiums Harksheide. Er habe den Eindruck, dass die Jugendlichen, die in acht Jahren Abitur machen, zwar ernsthafter lernen, aber das Sozialverhalten leide nicht unter der verkürzten Schulzeit, der Umgang miteinander und mit anderen sei völlig normal. Allerdings hätten die Pädagogen auch den Lehrplan angepasst und Inhalte gestrichen. "Zugute kommt Lehrern wie Schülern auch unser 90-Minuten-Takt. So bleibt Zeit für intensives Arbeiten", sagt Frische. Das Gymnasium hat dem 10. Jahrgang zusätzlich zum üblichen Lernstoff noch Religion oder Philosophie verpasst. Die G9-Schüler hätten das lange nicht gehabt und sollen damit auf den Wissenstand der schneller lernenden Mitschüler gebracht werden.

Auch Annette Leopold, Leiterin des Lessing-Gymnasiums, bezeichnet die Situation als undramatisch. "Der Druck durch das Turbo-Abi kann so groß nicht sein, da wir nicht mehr Schüler wegen zu schwacher Leistungen abgeben als früher", sagt die Schulleiterin. Sie wünscht sich eine bessere Betreuung für die Mittagspause und Angebote vor allem für die jüngsten Gymnasiasten, wenn sie gegessen haben.

Viel Druck, viel Stress, drei Nachmittage Unterricht bis 15.10 Uhr, keine Zeit für Freunde, keine Kraft mehr für Hobbys - so beschreiben die Schüler ihr Leben, die am Lise-Meitner-Gymnasium nach acht Jahren Abitur machen. Sie sind die Ausnahme, vor drei Jahren ist das Gymnasium wieder zum Abitur nach neun Jahren zurückgekehrt und fährt damit bestens: "Ich habe in Karlsruhe erlebt, was Turbo-Abi bedeutet und war so geschafft, dass ich keine Lust mehr hatte zu leben", sagt Marcel, 17. Die hat er wiedergefunden, seitdem er am Lise-Meitner-Gymnasium in Ruhe lernen kann. Auch G9-Mitschüler Yashar, 15, spricht von entspanntem Lernen. "Wir haben nur an einem Nachmittag Unterricht, da bleibt genug Freizeit", sagt er.

"Wir haben in der Schülervertretung einstimmig entschieden, G9 wieder einzuführen", sagt Linda, 18, die im 13. Jahrgang auf das Abitur zusteuert. Fiona, 18, ergänzt: "Bei uns wissen viele noch nicht, was sie nach dem Abi machen wollen. Wenn man ein Jahr jünger ist, dürfte die Entscheidung noch schwerer fallen." Es bleibe zu wenig Zeit zum Jobben.

Petra John, Vorsitzende des Schulelternbeirates, hat zwei Töchter an der Schule: "Die jüngere, die aufs Turbo-Abi zusteuert, hat mehr zu tun und muss auf mehr verzichten", sagt sie. Das längere Lernen wird offenbar von vielen Eltern begrüßt. Die Zahl der Anmeldungen steigt. Zum laufenden Schuljahr wurden 108 Kinder angemeldet, vor der Rückkehr zu G9 waren es im Schnitt 75.