Der SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil spricht im Interview über Mehrheiten, Verkehrs- und Bildungspolitik und die Endlagerdebatte.

Hamburg. Die Wahl in Niedersachsen am 20. Januar gilt als Testlauf für die Bundestagswahl im September. Stephan Weil will Rot-Grün auf die Erfolgsspur bringen, in seinem Bundesland die Bildungspolitik stärken und den Bevölkerungsschwund bremsen.

Hamburger Abendblatt: Der SPD-Kanzlerkandidat heißt Peer Steinbrück - hilft Ihnen das?

Stephan Weil: Ein Teil meiner Motivation für die Kandidatur für das Amt des Ministerpräsidenten ist auch die Bundespolitik. Ich will mit einem Wahlsieg in Niedersachsen auch ein starkes Signal Richtung Berlin senden und damit einen Beitrag leisten, dass wir eine rot-grüne Koalition im Bund hinkriegen - und dann eine bessere Politik für Deutschland. Umgekehrt hilft uns aktuell in Niedersachsen Peer Steinbrück. Ich habe mich dafür ausgesprochen, dass die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur in der SPD vor der Niedersachsenwahl getroffen wurde. Es wäre sehr unglücklich gewesen, wenn wir an den Infoständen im Wahlkampf keine Antwort gehabt hätten auf die verständliche Frage nach dem Spitzenkandidaten auf Bundesebene. Wer wie die SPD einen Führungsanspruch erhebt, muss auch bei Personalien klare Antworten haben. Und der Hamburger Peer Steinbrück passt auch gut zu uns Niedersachsen.

Wie gewichten nach Ihrer Einschätzung die Wähler im Januar Bundes- und Landespolitik bei ihrer Entscheidung?

Weil: 70 Prozent Landespolitik und 30 Prozent Bundespolitik.

Die Umfragen sehen Rot-Grün vor Schwarz-Gelb, aber auch die CDU deutlich vor der SPD. Je nachdem, ob FDP, Linke und Piraten doch den Sprung in den Landtag schaffen, ist aber eine Mehrheit für SPD und Grüne keinesfalls sicher. Wie flexibel sind Sie, was Koalitionen angeht?

Weil: Eines ist auf jeden Fall sicher: Die Niedersachsen sind durch mit dieser schwarz-gelben Landesregierung, das spiegeln alle Umfragen. Die SPD liegt bundesweit um die 30 Prozent. Und die etwa 33 Prozent in den Umfragen für Niedersachsen halte ich für realistisch. Zusammen mit den Grünen gibt das derzeit eine Mehrheit. Die Niedersachsen wollen den Wechsel, die Zeichen stehen klar auf Rot-Grün. Ich kämpfe dafür, dass das Wahlergebnis noch besser wird als die Umfragen. Und was die Frage nach anderen Konstellationen angeht: Denken kann ich vieles, aber arbeiten tue ich nur für Rot-Grün.

Was ist für Sie das wichtigste Thema in diesem Landtagswahlkampf?

Weil: Bildung! Das ist aus Sicht der Wählerinnen und Wähler schon für sich betrachtet das wichtigste Thema, das ist es aber auch wirtschaftspolitisch. Nicht etwa die ostdeutschen Länder haben den stärksten Bevölkerungsrückgang in Deutschland, sondern Niedersachsen. Dramatisch ist bei uns auch der Geburtenrückgang. Das rührt an den Grundfesten der Gesellschaft, und damit landen wir sofort bei der Wirtschaftspolitik. Die wichtigste Aufgabe der Politik ist es, sich um qualifizierten Nachwuchs zu kümmern. Das bekomme ich übrigens auch von den Unternehmen landauf, landab immer drängender zu hören. Es gibt im Westen Niedersachsens Regionen mit wachsender Bevölkerung. Aber auf zwei Dritteln der Fläche des Landes schrumpft die Bevölkerung - und dies teilweise dramatisch. Deshalb fordere ich ja auch, vor 2019 über den Solidaritätszuschlag zu reden. Man kann Strukturschwäche nicht nur nach der Himmelsrichtung definieren. Wir haben in Niedersachsen Gebiete mit Problemen, die denen in den neuen Bundesländern in nichts nachstehen.

Wenn es zum Machtwechsel kommt, wie werden die Menschen ihn zu spüren bekommen?

Weil: Der jahrzehntelange Gesamtschulstreit in Niedersachsen hängt den Menschen zum Halse heraus. Ich werde ihn schnell und pragmatisch beenden. Entscheidend muss der Elternwille sein, und wenn der kommunale Schulträger eine Gesamtschule gründen will, stellt sich das Land dem nicht in den Weg. Und die Studiengebühren werden abgeschafft. Selbst der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer will sie nicht mehr, damit stehen Herr McAllister und Niedersachsen bundesweit allein. Und gerade ein Land mit so niedrigen Geburtenraten wie Niedersachsen kann es sich nicht leisten, bei der Zahl der Krippenplätze zu den Schlusslichtern zu gehören. Wir schaffen mehr Krippenplätze. Mit einem Landesvergabegesetz werden wir dafür sorgen, dass sich die Unternehmen mindestens bei öffentlichen Aufträgen am Tariflohn oder dem Mindestlohn orientieren. Ich hoffe, dass die Menschen in den strukturschwachen Gebieten ganz schnell merken: Die Landesregierung kümmert sich um unsere Zukunft, und zwar im Gespräch mit den Kommunen. In einem so großen Flächenland wie Niedersachsen mit sehr unterschiedlichen Problemstellungen brauchen wir eine regionalisierte Landespolitik.

Viele Ihrer Ziele kosten Geld, auch die Abschaffung der Studiengebühren. Wie kriegen Sie das mit der Schuldenbremse unter einen Hut?

Weil: Wie schnell wir gerade in der Bildungspolitik vorankommen, hängt natürlich auch von den steuerlichen Rahmenbedingungen ab. In Niedersachsen wird es erstmals eine systematische Aufgabenkritik geben, und wir werden hinterfragen, was es mit diversen Förderprogrammen für die Ernährungswirtschaft auf sich hat. Aber die von allen verlangte Bildungsrepublik Deutschland kostet. Ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent ist für dieses Ziel gerechtfertigt. Unter Helmut Kohl betrug er übrigens 53 Prozent. Entscheidend ist, dass die Betroffenen wissen, dass das Geld nachvollziehbar in Bildung investiert wird.

SPD und Grüne auf Bundesebene befürworten eine neue Endlagersuche unter Einschluss des Standortes Gorleben. Sie sind im Alleingang dagegen. Riskieren Sie nicht das Scheitern eines bundesweiten Konsenses, und dann steht wieder Gorleben allein zur Debatte?

Weil: Diese Argumentation entspricht nicht dem neuesten Stand. Sogar Herr McAllister verknüpft neuerdings überraschend die Endlagerung mit dem Kriterium der Rückholbarkeit und argumentiert, damit habe sich Gorleben ohnehin erledigt. So ist es.

Ihr eigener Bundesvorsitzender Sigmar Gabriel argumentiert anders, will den bundesweiten Konsens inklusive eines denkbaren Standortes Gorleben.

Weil: Ich habe eine andere Meinung. Wir haben beim Endlager Asse - ebenfalls in einem Salzstock - ein beispielloses Desaster erlebt. In Gorleben sind die geologischen Zweifel immer größer geworden, und dies ist ein klassisches Ausschlusskriterium. Es geht um die sichere Lagerung über Hunderttausende von Jahren, da darf man keine taktische Entscheidung treffen. Ein neuer Vergleich möglicher Standorte schließt Niedersachsen nicht aus. Aber Gorleben darf es nicht werden.

Die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein bremst bei der Küstenautobahn und der Elbquerung stromabwärts von Hamburg. Sie propagieren diese Autobahn aber. Sind Sie auch in der Lage, ihren potenziellen grünen Koalitionspartner davon zu überzeugen?

Weil: Die Bedeutung der A 20 ist allen klar, aber wir haben ein Kernproblem anderswo: Die Bundesregierung ist ein belastbares Finanzkonzept für die Elbquerung bislang schuldig geblieben, und deswegen führen wir gegenwärtig eine Phantomdiskussion.

Ihr Kontrahent McAllister hat hier vor drei Wochen seine Marschroute für die Küstenautobahn erläutert: Baurecht schaffen für immer neue Abschnitte, damit am Ende auch die Elbquerung realisiert wird.

Weil: Das ist doch absurd - von beiden Seiten her zu bauen, und dann warten die Autofahrer auf die Fähre. Es braucht ein eindeutiges und mit Geld untermauertes Bekenntnis der Bundesregierung zur Elbquerung, und da habe ich Zweifel: Gegenwärtig fließen die meisten Fördermittel des Bundes für den Straßenbau zielstrebig am Norden vorbei in den Süden der Republik. Ein vergleichbar wichtiges Projekt in Bayern wäre schon längst viel weiter. Es gibt ein eindeutiges süddeutsches Übergewicht bei der Interessenvertretung in der aktuellen Bundesregierung, und was ich Herrn McAllister übel nehme: Er ordnet die Landesinteressen den Parteiinteressen unter, er hat jede Auseinandersetzung über solche Fragen mit der Kanzlerin peinlich vermieden.

Die künftige Zusammenarbeit mit Hamburg ...

Weil: ... wird hervorragend. Olaf Scholz und ich, wir verstehen uns ausgesprochen gut, und ich denke, wir sind uns ähnlich: unprätentiös und kompetent. Ich bin mir der Bedeutung des Oberzentrums Hamburg für den norddeutschen Raum sehr bewusst, als geborener Hamburger und struktureller Hamburg-Sympathisant fällt mir das nicht schwer. Es liegt im niedersächsischen Interesse, diese Achse zu stärken und Lösungen zu organisieren, etwa für die wachsenden Hinterlandverkehre des Hamburger Hafens.