Bundesjustizministerin zieht ernüchternde Bilanz nach einem Jahr. Angehörige von Opfern beklagen, Aufklärung komme nicht voran.

Berlin. Ein Jahr nach Bekanntwerden der rechtsextremistischen Mordserie macht sich bei Hinterbliebenen Ernüchterung über mangelnde Ermittlungsergebnisse breit. Angehörige von Opfern äußerten unmittelbar vor dem Jahrestag die Einschätzung, die Aufklärung komme nicht voran. Nach Ansicht des Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, fragen sich inzwischen viele Bürger, ob ein Wille dazu "tatsächlich vorhanden ist". Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kritisierte die Bilanz der Untersuchungsausschüsse zur Zwickauer Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) als enttäuschend. Die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Barbara John, warf den Sicherheitsbehörden vor, sie führten ein Eigenleben. Bund und Länder hätten die Zügel nicht mehr in der Hand.

Zum Jahrestag der Aufdeckung der NSU-Morde am 4. November sind bundesweit in rund 30 Städten Aktionen geplant. Koordiniert werden sie von einem Bündnis gegen das Schweigen. Bereits heute will die Türkische Gemeinde Hamburg in der Schützenstraße 45 in Bahrenfeld Blumen niederlegen. Hier ermordeten die Terroristen 2001 den türkischen Gemüsehändler Süleyman Tasköprü. Am Sonnabend ist eine Demonstration gegen Rechsextremismus geplant. Der NSU soll in den Jahren 2000 bis 2007 zehn Menschen ermordet haben. Dabei handelte es sich um Kleinunternehmer mit ausländischen Wurzeln und eine Polizistin. Zudem werden dem Terrortrio 15 Überfälle und zwei Anschläge angelastet.

Der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Sebastian Edathy (SPD), forderte eine "Qualitätsoffensive" bei den Verfassungsschutzbehörden. Zwar sei er nicht für deren Auflösung. Es reiche aber nicht, "ein paar Stellschrauben nachzustellen", sagte der SPD-Politiker. Der Bundestagsuntersuchungsausschuss stehe unter Zeitdruck, weil er bis zum Ende der Legislaturperiode im Sommer seinen Bericht vorlegen soll, betonte Edathy. "Es wird uns schwer gemacht, an das notwendige Material zu kommen", sagte die SPD-Politikerin Eva Högl, Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses. "Mal liefern die Behörden unvollständige Akten, dann aber auch wieder so viele Ordner, dass wir erst mühsam heraussortieren müssen, was wirklich wichtig ist", sagte Högl der "Berliner Morgenpost".

Gamze Kubasik, Tochter des am 4. Juni 2006 in Dortmund erschossenen NSU-Opfers Mehmet Kubasik, sagte dem "Tagesspiegel", sie habe das Gefühl, die Aufklärung komme nicht voran, und verwies dabei auch auf die Vernichtung einschlägiger Akten in Verfassungsschutzämtern. "Uns wurde sehr viel versprochen, auch von der Bundeskanzlerin", sagte Kubasik. Kerim Simsek, Sohn des am 9. September 2000 erschossenen Enver Simsek, sagte der Zeitung: "Wir wollen, dass es jetzt endlich losgeht. Unser tiefer Wunsch nach voller Aufklärung wird erst durch einen Richterspruch Geltung erlangen." Sanem Kleff von der Berliner "Aktion Courage" zum Gedenken an die NSU-Opfer forderte eine langfristig gesicherte Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen rechts.