Vor allem ledigen Männern ohne Job droht die Abhängigkeit vom Netz. Auch bei Menschen mit Migrationshintergrund höheres Risiko.

Berlin. Wenn die Kontrolle entgleitet, wird es gefährlich. Wenn die eigene Kraft nicht mehr ausreicht, sich vom Internet zu lösen. Wenn selbst Essen, Duschen oder Zähneputzen wegen der Sucht in Vergessenheit geraten. "Bis hin zur körperlichen Verwahrlosung" könne es gehen, wenn ein Mensch internetabhängig werde, warnte Mechthild Dyckmans (FDP), Drogenbeauftragte der Bundesregierung, die gestern in Berlin ihre Jahrestagung zu diesem Thema veranstaltet hat.

Mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland seien mittlerweile von Internetsucht betroffen: 560 000 der 14- bis 64-Jährigen, zudem würden 2,5 Millionen Menschen das Netz auf eine problematische, exzessive Weise nutzen, wie eine Studie der Universitäten Lübeck und Greifswald ergeben hat. Bei den 25- bis 44-Jährigen kommen 0,8 Prozent nicht mehr von der Online-Welt los, bei den 45- bis 64-Jährigen sind es 0,5 Prozent. Während die große Mehrheit der 14- bis 24-Jährigen ins Netz geht, um zu chatten, Fotos zu posten und Mitteilungen zu kommentieren, setzen die Älteren eher auf Online-Spiele.

Zwar sind diese Zahlen schon ein gutes Jahr alt - neu sind aber Erhebungen zu den Risikofaktoren, die die Betroffenen aufweisen. Die Wissenschaftler haben 15 000 Deutsche nach ihrem Internetnutzungsverhalten befragt und festgestellt, dass vier Merkmale eine Abhängigkeit besonders begünstigen: So besteht ab einem Alter von 25 Jahren ein erhöhtes Risiko bei Männern, bei Arbeitslosigkeit, bei Ledigen und bei Menschen mit Migrationshintergrund. Am meisten gefährdet ist, wer alle diese Faktoren aufweist.

Insgesamt ist das Phänomen Internetsucht aber ein wissenschaftlicher Graubereich und medizinisch umstritten. Als Krankheit anerkannt ist das pathologische Verlangen nach der digitalen Droge nicht, dementsprechend schwierig ist die genaue Definition, räumte Hans-Jürgen Rumpf von der Uni Lübeck ein.

Bei der vorliegenden Untersuchung hätte man sich an der Vereinigung amerikanischer Psychologen orientiert, die zehn Prüfkriterien vorschlägt, von denen mindestens fünf erfüllt sein müssten, damit von einer Internetsucht die Rede sein kann. Dazu zähle die fast ausschließliche Beschäftigung mit dem Internet, Entzugserscheinungen wie Langeweile und Gereiztheit oder wenn die Online-Welt als Flucht benutzt wird, um negativen Gefühlen zu entfliehen.

"Die wichtigste Unterscheidung ist aber der Kontrollverlust", sagte Rumpf. "Wer sein Verhalten nicht mehr selbst kontrollieren kann, ist wahrscheinlich von Internetsucht betroffen." Einige Psychologen sehen in einer exzessiven Internetnutzung allerdings keine eigenständige Störung, sondern lediglich das Symptom einer psychischen Erkrankung, etwa einer Depression.

Dyckmans will aber vorantreiben, dass die Sucht nach dem Surfen als eigenständige Krankheit in das weltweit gültige Diagnoseklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation WHO eingetragen werden kann. "Damit eine spezifische Behandlung erfolgen kann, muss diese Frage von den medizinischen Fachgesellschaften geklärt werden", sagte sie.

Das setze allerdings voraus, dass eine breite Datenlage zu Verbreitung und Symptomen geschaffen werde. Im nächsten Frühjahr solle deshalb auch eine zweite Studie zum Thema erscheinen.

Der Fokus liegt also vorerst auf Behandlung - und vor allem Prävention. "Jugendliche und Erwachsene müssen in ihrer Medienkompetenz gestärkt werden, damit sie das Internet verantwortungsbewusst nutzen", so Dyckmans. "Aber auch die Anbieter von Computerspielen oder sozialen Netzwerken sind in der Pflicht, ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden, indem sie die Nutzer über die Risiken aufklären."