560 000 Menschen leiden in Deutschland unter Internetsucht - es gibt mehr Online- als Glücksspielabhängige. Die Gefahr ist kaum erforscht.

Hamburg/Berlin. 70 Stunden in der Woche zog Stefan K. aus Hamburg in die Schlacht. An manchen Wochenenden schlief K. nur drei Stunden. Er war mit seinem Krieger in "Azeroth" unterwegs, der Fantasiewelt des Computerspiels "World of Warcraft", mit Magiern und Rittern, mit Gnomen und Orcs. Eine Welt der Kämpfe und des Handelns. Es war auch Stefans Welt.

Von dem Leben außerhalb des Bildschirms wollte er nicht mehr viel wissen. Die Kurse an der Uni, seine Freunde im Fußballverein, seine Eltern interessierten ihn nicht mehr. Sogar sein eigener Körper war Stefan nicht mehr viel wert. Er bestellte sich Pizza, wenn er überhaupt noch mal einen Bissen aß, er duschte nur noch selten.

Stefan K. teilte seine Welt mit anderen Menschen, die ihr reales Leben eintauschen gegen eine Fantasiewelt. Und der 25 Jahre alte K. teilt mit vielen auch die Sucht danach. Allein in Deutschland gehen etwa 560 000 Menschen täglich mindestens vier Stunden online. Das Internet wird zum Zwang - etwa ein Prozent der Bevölkerung ist vom Netz abhängig. Weitere 2,5 Millionen Internetnutzer sind suchtgefährdet. Dies sind die Ergebnisse einer repräsentativen Studie. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans (FDP), stellte sie in Berlin vor. Mehr Menschen sind vom Internet abhängig als von Glücksspielen (0,3 bis 0,5 Prozent). Besonders betroffen sind Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren.

Für die erste repräsentative Studie auf diesem Feld wurden bundesweit 15 000 Menschen im Alter zwischen 14 und 64 Jahren befragt. Je jünger die Internetnutzer seien, desto höher sei die Abhängigkeit, sagte der Studienleiter Hans-Jürgen Rumpf von der Universität Lübeck. Tendenziell kämen eher Männer als Frauen nicht mehr vom Internet los.

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In "Azeroth" war Stefan K. mit seinem Krieger ein Held. Er kämpfte in Gilden, online vernetzt mit anderen Spielern, sein Charakter wurde stärker, seine Waffen besser. "In der virtuellen Welt finden sie Erfüllung und Anerkennung, die ihnen möglicherweise im wirklichen Leben verwehrt bleiben", sagt Dyckmans. "Real life - the worst game ever", heißt ein Spruch der Netzwelt. Das wahre Leben, es ist das schlechteste Spiel überhaupt. Stefan K.s Flucht aus diesem Leben war ein Prozess. Er studierte Informatik, schon immer spielte er viel am Computer und war im Internet unterwegs. Aber eben auch woanders, in der Disco, im Kino, im Fußballverein. Dann riss er sich das Kreuzband - und saß viel zu Hause am Schreibtisch. Und vor dem Computer. Was mit zwei Stunden spielen am Tag begann, endete in der Isolation.

Auch Colette See kennt diese extremen Suchtbiografien. Sie ist Referentin für Suchtprävention und neue Medien an der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen. "Die Menschen, die zur Behandlung kommen, sind oft gut gebildet, haben einen Realschulabschluss oder sogar Abitur gemacht", sagt See. Nicht selten sei der hohe Leistungsdruck eine Ursache für die Flucht ins Internet. Bei den Onlinespielen hätten junge Menschen den Erfolg, der ihnen im wahren Leben verwehrt bleibt.

Bei Spielen wie "World of Warcraft" umso mehr. Vor allem wenn man eines macht: ganz viel spielen. Denn wenn Stefan K. den Computer ausmachte, lief die Welt in "Azeroth" weiter. Die Mitspieler sammelten weiter Punkte. Colette See vergleicht es mit einem Fußballspieler, der schläft, während der Rest der Mannschaft weiter auf dem Platz trainiert. Das steigert die Suchtgefahr für Menschen wie Stefan K. See beklagt, dass diese Gefahr zwar seit etwa 1995 bekannt, doch noch immer zu wenig erforscht sei.

Auch Professor Rainer Thomasius, der ärztliche Leiter der Drogenambulanz des UKE, fordert "deutlich mehr Geld von der Bundesregierung" zur Erforschung von Therapien und Beratungen bei Internetsucht. "Wer internetsüchtig ist, leidet oft unter Angstzuständen und Selbstwertstörungen. Vor allem schüchterne Kinder sind betroffen, die in der Schule schnell zum Außenseiter werden", sagt Thomasius dem Abendblatt. Mit der Onlinesucht gehe oft auch ein erhöhter Konsum von Cannabis und Alkohol, aber auch Esstörungen einher. Er rät vor allem: Eltern sollten mit ihren Kindern vereinbaren, wie lange und auf welchen Seiten gesurft werden darf. See von der Landesstelle für Suchtfragen berichtet: "Fast alle Anrufe bei uns kommen von verunsicherten Eltern. Aber das Kind ist nicht süchtig, nur weil es zweimal in der Woche vier Stunden am Computer spielt." Für Eltern sind die Grenzen zwischen Spiel und Sucht oft schwer zu erkennen. See warnt aber davor, den Computer generell zu verteufeln. Es komme vor allem auf den eigenverantwortlichen Umgang mit Medien an. Auch Stefan K. musste das erst lernen - und machte eine Therapie gegen seine Sucht.