Die Bewerber um die Spitzenkandidatur stellen sich Fragerunden der Basis. Vor allem die Parteiführung der Grünen hat viel zu verlieren.

Berlin. Als Claudia Roth zu reden beginnt, fängt hinten ein Baby an zu weinen. Man kann unterstellen, dass das nicht am Inhalt dessen liegt, was die Grünen-Chefin gerade sagt. Nein, es liegt an der Lautstärke. Claudia Roth ist die achte Rednerin in der Vorstellungsrunde des Urwahlforums der Grünen - und sie ist die lauteste. Mit dem Mikrofon steht sie vorn auf dem Podium und macht der Basis mit kräftigem Organ und ausladenden Gesten klar, warum sie Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2013 werden will.

Sie macht das ganz routiniert. Seit 2004 ist Roth eine der beiden Bundesvorsitzenden der Grünen, das Reden vor vielen Leuten ist eine ihrer einfachsten Übungen. Sie steht also da und feuert die rund 500 Parteimitglieder in der Berliner Kalkscheune, einem Veranstaltungszentrum in Mitte, zum Kämpfen an. Gegen Schwarz-Gelb, für eine Frauenquote, für mehr Vielfalt. Und sie kündigt an, dass sie als Spitzenkandidatin "mit viel Empathie" über Themen wie Bankenregulierung, Steuerpolitik, Windparks oder Bürgerversicherung mit den Menschen sprechen will. Zwei Minuten hat sie, wie jeder Kandidat, und schnell ist die Zeit um. Danke schön. Und jetzt der Nächste.

Willkommen beim Urwahl-Experiment der Grünen. Zum ersten Mal in der bundesdeutschen Parteiengeschichte werden die Spitzenkandidaten durch ein Votum der Basis bestimmt. Die 60 000 Mitglieder dürfen bis zum 30. Oktober abstimmen, mit welchen beiden Gesichtern sie in die Bundestagswahl 2013 gehen wollen. 15 Kandidaten haben sich beworben. Neben Roth, den Fraktionschefs Jürgen Trittin und Renate Künast sowie Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt sind es elf unbekannte Basis-Vertreter. Gemeinsam tingelt die Gruppe seit Freitag durch die Bundesrepublik, um sich bei den Leuten vorzustellen.

Mit dem 67-jährigen Friedrich Wilhelm Merck ist auch ein Hamburger dabei, allerdings musste er - nicht als Einziger - die Veranstaltung ganz kurzfristig absagen. So sind nur zwölf der 15 Kandidatenkandidaten heute nach Berlin gekommen.

Der Unterschied zwischen den Polit-Profis und den Basis-Kandidaten zeigt sich dabei deutlich. Da ist etwa der Kandidat Thomas Austermann aus Essen. Sein Hauptthema ist Friedenspolitik, er hat sich einen Button mit einer weißen Friedenstaube an die Brust geheftet. Austermann verhaspelt sich, und man sieht ihm an, dass er sich nicht wohlfühlt da vorne im Scheinwerferlicht. Da ist jemand wie Markus Meister aus Kassel, 34 Jahre alt, unzufrieden mit der Parteiführung, neben der er gerade sitzt. Ihn hätten vor allem die Amateurredner wie Austermann bewegt, sagt er, diejenigen, die mit Herzblut für ihre Themen stehen. Die Reden der Profis seien ihm "zu platt", lieber wolle er "echte Gefühle".

Die Kritik an der Parteiführung, an den etablierten Grünen, das ist es, was viele der Basis-Kandidaten eint. Der erst 22-jährige Nico Hybbeneth aus Hessen muss zwar seine Rede von Blatt ablesen, bringt es aber für viele im Publikum sehr deutlich auf den Punkt: "Die Grünen bieten zu wenig Identifikationspotenzial. Die Grünen werden als spießig wahrgenommen", sagt er und bekommt viel Applaus. Und er ist es auch, der eine der Achillesfersen der Partei benennt: dass an der Spitze seit Jahren dieselben Gesichter zu sehen sind, dass es keinen Generationswechsel gibt. Auch deshalb trete er an, sagt er, auch wenn er wisse, dass er eigentlich kaum eine Chance gegen die Prominenz aus der ersten Reihe habe.

Das Frauenstatut der Grünen will es so, dass mindestens eine Frau dem Führungsduo angehört. Das heißt: Ein Mann und eine Frau oder zwei Frauen werden am Ende vorn stehen. Bekommen zwei Männer die meisten Stimmen, hat der Zweitplatzierte zugunsten einer Frau das Nachsehen. Da sich insgesamt nur drei Frauen, aber zwölf Männer bewerben, haben Roth, Künast und Göring-Eckardt einen klaren Vorteil - und damit auch drei der Etablierten. Jürgen Trittin gilt parteiintern zudem als klarer Favorit. Bevor die Fragerunde beginnt, sind die vier auch als Einzige von den Kameras umringt, während die anderen Bewerber unsicher am Rand warten.

Während es für die Basis-Bewerber vor allem um die Wiederkehr von grünen Idealen geht, geht es für die Parteiführung um alles. Ein schlechtes Ergebnis bei der Urwahl dürfte für einen gewaltigen Kratzer an Image und Autorität sorgen. Am 10. November soll das Ergebnis feststehen. Nur eine Woche später ist Parteitag - und dort wird auch der Vorstand neu gewählt. Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck sieht das Risiko trotzdem eher aufseiten der unbekannten Bewerber. Die Partei frage sich, "wie es sein kann, dass Leute glauben, sie könnten Spitzenkandidat, obwohl sie noch nicht mal in der Partei bekannt sind", sagte Beck unlängst. Sie sollten sich daher überlegen, ob sie sich die Vorstellungsrunden antun.