60 Jahre danach: Der Theologe, Richter, Professor, Buchautor und Sozialdemokrat Richard Schröder hatte das Pech, in jenem Teil Deutschlands aufzuwachsen, der bei Kriegsende 1945 an die Sowjets fiel.

"Wir hatten den Eindruck, den Krieg doppelt verloren zu haben." Im Abendblatt-Interview erläutert er, wie aus dem unterschiedlichen Erleben der "Befreiung" in West- und Ostdeutschland auch unterschiedliches Erinnern wuchs, und warum vielen die Nazi-Zeit immer exotischer erscheint.

ABENDBLATT: Herr Professor Schröder, Sie sind Jahrgang 1943, haben also keine Erinnerung an das Kriegsende. Was bedeutet der 8. Mai 1945 für Sie persönlich?

RICHARD SCHRÖDER: In der DDR war der 8. Mai gesetzlicher Feiertag. Er wurde als eine Art Heldengedenktag gefeiert - für die Helden der Sowjetischen Armee. Gleichzeitig waren eine ganze Reihe meiner Schulkameraden vaterlos, und das kam dabei gar nicht vor.

ABENDBLATT: Wie haben Sie den Begriff Befreiung empfunden?

SCHRÖDER: Natürlich war es eine Befreiung von den Nazis. Aber offiziell wurde es dargestellt, als würden diese jetzt im Westen sitzen und den Dritten Weltkrieg vorbereiten. Diese Instrumentalisierung des Schrecklichen konnte ich nicht akzeptieren. Persönlich habe ich den 8. Mai als eine Befreiung ohne Freiheit empfunden. Das ist sicher der große Unterschied zur Situation der Westdeutschen gewesen.

ABENDBLATT: Im Westen galt der Begriff Befreiung bis zur Weizsäcker-Rede 1985 als politisch nicht korrekt.

SCHRÖDER: Die westdeutsche Nachkriegsgeneration hat oft verdrängt, wie dieser Tag von ihren Eltern erlebt worden ist. Der 8. Mai konnte auch hier nur sehr begrenzt als Befreiung erlebt werden, denn es war gleichzeitig eben auch die totale Niederlage, das Verschwinden des deutschen Staates. Es gab kein Subjekt, das noch einen Friedensvertrag hätte verhandeln können. Viele wußten nicht, wo ihre Verwandten waren, ob sie überhaupt noch lebten oder in Gefangenschaft waren. Ich wundere mich schon sehr, wenn ich höre, daß am 8. Mai 1945 der Frieden begonnen haben soll. In Wahrheit begann an diesem Tag das Schweigen der Waffen.

ABENDBLATT: Wann fing der Frieden denn wirklich an?

SCHRÖDER: Deutschland war geteilt, und wir Ostdeutschen hatten den Eindruck, den Krieg doppelt verloren zu haben. Und die Aussicht auf Freiheit war für uns immer verbunden mit der Aussicht auf die deutsche Einheit. Aber wann so etwas kommen könnte, war zeitlich nicht absehbar. Nun sind wir durch Gorbatschow, die politische Entwicklung Ende der 80er Jahre und den Fall der Mauer erfreulich überrascht worden. Für mich markiert der Zwei-plus-Vier-Vertrag völkerrechtlich das Ende des Zweiten Weltkriegs. Er brachte die Wiederaufnahme Deutschlands ohne alle Vorbehalte in die Völkergemeinschaft. Dieser Vertrag ersetzt den Friedensvertrag und setzt völkerrechtlich erst den Schlußpunkt. Ich wünschte mir, das würde am 3. Oktober mehr gefeiert.

ABENDBLATT: Kann man jetzt freier über die dunklen Seiten reden, die sich mit diesem Ereignis auch verbinden?

SCHRÖDER: Ja, das können wir. Und wir werden, wenn wir es tun, auch nicht gleich als Revanchisten beschimpft. Denn es gibt heute keine offenen Probleme aus der Geschichte mehr, es ist alles mit unseren Nachbarn einvernehmlich gelöst.

ABENDBLATT: Viele Hamburger Zeitzeugen, die jetzt befragt wurden, erinnern sich noch immer an die Angst vor den Russen. Für die Hamburger war diese Angst unbegründet, für die Ostdeutschen nicht. Würden Sie Ralf Dahrendorf recht geben, der dieser Tage gesagt hat, daß das unterschiedlich erlebte Kriegsende bereits der Ausgangspunkt gewesen ist für die "großen Mißverständnisse zwischen dem sowjetisch besetzten und dem nicht sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, die ja nach der Vereinigung noch andauern"?

SCHRÖDER: Ja, das war zweifellos so und hat erhebliche Nachwirkungen gehabt. Wir haben zum Beispiel, wenn wir zu DDR-Zeit Besuch aus dem Westen hatten, von Zeit zu Zeit erlebt, daß die Gäste sagten: "Bei uns in Deutschland ist das aber anders." Offenbar wußten diese Leute damals nicht, wo sie sich gerade befanden. Klar war aber, daß sie uns nicht mehr zu Deutschland zählten.

ABENDBLATT: Wie hat Ihre Familie die Russen erlebt?

SCHRÖDER: Wir lebten in Frohburg in Westsachsen, wo zuerst die Amerikaner und erst später die Russen kamen. Die entfesselte Gewalt, über die oft berichtet wurde, haben wir nicht erlitten, weil sich diese Exzesse meistens auf die ersten Tage der Besetzung beschränkten. Als Besatzungsmacht verhielten sich die Russen später relativ korrekt. Aber die Vergewaltigungen und all diese Dinge hat es natürlich gegeben - mit einer Ausnahme, die mir auch aus unserer Familie immer wieder berichtet wird: Die Russen hatten ein Herz für Kinder. Es konnte vorkommen, daß Soldaten eine Frau vergewaltigten und anschließend noch einmal wiederkamen, um deren Kindern Essen zu bringen. Insofern ist die Darstellung auf dem Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow, wo der sowjetische Soldat ein Kind auf den Schultern trägt, historisch gesehen gar nicht unberechtigt.

ABENDBLATT: Aber dann begannen die politischen Repressionen . . .

SCHRÖDER: Ja, dann kamen die Verhaftungen und Enteignungen. Die Sowjets haben die KZ weiter benutzt, wenn auch nicht als Vernichtungslager. Sie haben aber nicht nur alte Nazis dort inhaftiert, sondern alle wirklichen oder nur vermeintlichen politischen Gegner.

ABENDBLATT: Welche Erfahrungen hat Ihre Familie gemacht?

SCHRÖDER: Mein Vater war privater Apotheker und galt damit als Kapitalist. Und konnte nicht sicher sein, ob nicht auch er zu denjenigen gehörte, von denen die Gesellschaft gereinigt werden mußte. Wahrscheinlich haben sie sich aber überlegt, daß eine Gesellschaft ohne Apotheker nicht richtig funktionieren kann. Für mich gehört zu den prägenden Erlebnissen meiner frühen Kindheit, daß wir in rechtlosen Zeiten lebten. Es wurde mit Vorliebe nachts verhaftet. Wenn mein Vater Bereitschaftsdienst hatte und nachts jemand klingelte, sahen wir immer erst nach, ob draußen ein Auto stand oder eine Einzelperson. Wenn es ein Auto gewesen wäre, hätte mein Vater nach dem Schlüssel für den Hinterausgang gegriffen und zu fliehen versucht.

ABENDBLATT: Wieso gibt es gerade in diesem Jahr ein so starkes Bedürfnis, sich zu erinnern?

SCHRÖDER: Es hängt sicher damit zusammen, daß man freier davon erzählen kann. Auch die schlimmen Dinge sind nicht mehr tabu. Das war nicht immer so. Wer vor 1989 die verlorene deutsche Einheit bedauerte, galt im Westen als Reaktionär und im Osten als Revanchist und Kriegstreiber.

ABENDBLATT: Aber wenn über deutsches Leid geredet wird, gibt es auch Kritik . . .

SCHRÖDER: Die deutsche Öffentlichkeit hat in die Abgründe der Nazi-Vergangenheit geblickt. Und man kann - ohne daß uns das gleich als Selbstüberhebung ausgelegt werden kann - sagen: Manche Völker haben da noch etwas vor sich, was das Anschauen der schwarzen Kapitel in ihrer Geschichte betrifft.

ABENDBLATT: Geraten nicht oft die historischen Abläufe und Zusammenhänge zu sehr aus dem Blick?

SCHRÖDER: Es ist schon klar, daß die totale Niederlage die Folge des totalen Krieges gewesen ist. Deutschland hatte die klassischen völkerrechtlichen Spielregeln systematisch außer Kraft gesetzt. Wenn mein Vater gegen den Bombenterror der Alliierten gewettert hat, hat er nicht bedacht, was vorher in Warschau, Rotterdam oder in Coventry gewesen ist. Wahrscheinlich hat er es wirklich nicht so genau gewußt.

Man kann aber denjenigen, die etwa unter dem Bombenkrieg oder den Vertreibungen gelitten haben, nicht sagen, daß dies die Strafe dafür war. Das hat mit individueller Schuld nichts zu tun. Ich bin ja auch nicht schuld, in der DDR aufgewachsen zu sein, und wäre stinksauer, wenn jemand mir sagen würde: Das ganze Unrecht im Osten habt ihr ja selbst verschuldet. Der Krieg ist von Deutschland geführt worden, seine Folgen waren für den einen Teil Deutschlands weniger schwerwiegend als für den anderen. Ich gönne den Westdeutschen das, aber diese Dinge dürfen natürlich nicht mit Kategorien von individueller Schuld in Verbindung gebracht werden.

ABENDBLATT: Und wie beurteilen Sie diejenigen, die in Zusammenhang mit Dresden vom "Bombenholocaust" sprechen?

SCHRÖDER: Wollen wir denen wirklich die Ehre antun, von ihnen zu reden? Es gibt Leute, die meinen, daß in jeder Gesellschaft auf dem rechten und linken Spektrum mit fünf Prozent Radikalen zu rechnen sei. Also, wenn ich das in Anschlag bringe, ist das für Deutschland gar nicht mal der Fall. Wenn die NPD in Sachsen so gut abgeschnitten hat, dann ist das auf Grund von Hartz IV geschehen. Nachdem der Spruch vom Bombenholocaust gefallen war, gab es bei den NPD-Landtagsabgeordneten selbst von denen Protestanrufe, die sie gewählt hatten - mit dem Tenor: Für solche Sprüche habt ihr unsere Stimme aber nicht bekommen. Im übrigen haben die Dresdner ihre eigene, wie ich finde, auch angemessene Art, der Zerstörung ihrer Stadt zu gedenken. Und das war schon zu DDR-Zeit so. Schon damals waren auch Vertreter aus Coventry beteiligt. Und diese Kultur des Gedenkens, die stets auf Versöhnung ausgerichtet ist, lassen wir uns von den Neonazis nicht umdrehen.

ABENDBLATT: Ist diese Gefahr gebannt?

SCHRÖDER: Wenn sich eine angemessene Kultur des Opfergedenkens bildet, können Rechtsradikale dieses Thema nicht instrumentalisieren. Sie können dann nicht behaupten, daß die Gesellschaft diese Dinge verschweigt.

ABENDBLATT: Das Gedenken an den Bombenkrieg ist etwas, was Ost- und Westdeutsche vereint. Sehen Sie im Erinnern an die so unterschiedlich erlebte Befreiung Unterschiede zwischen Ost und West?

SCHRÖDER: Ich merke schon, daß der 8. Mai für Westdeutsche als Ende der Nazi-Zeit wahrgenommen wird. Von da an bewegten sie sich fortwährend in Richtung Freiheit und Wohlstand. Die Folge davon ist, daß man sagen kann: Nachdem die Generation der Väter, die mit dem Begriff Befreiung natürlich nicht viel anfangen konnte, gestorben ist, kann man mit dem 8. Mai ein Kontinuum beginnen lassen. Bei uns im Osten funktioniert das so nicht.

ABENDBLATT: Wie funktioniert Erinnerung an ein Geschehen, das 60 Jahre zurückliegt?

SCHRÖDER: Mir fällt auf, daß nach 60 Jahren Wohlstand und Frieden die Nazi-Zeit für viele Menschen immer exotischer erscheint. Das heißt, man kann sie sich in Wahrheit nicht richtig vorstellen. Im übrigen glaube ich nicht, daß es eine Charakterfrage ist, ob ein Volk eine Diktatur verhindert. Entscheidend ist vielmehr das Bewußtsein für den Wert bestimmter gesellschaftlicher Institutionen wie der freien Presse, unabhängigen Justiz und freien Meinungsbildung.

ABENDBLATT: Sie selbst waren ja an der Ausarbeitung des Einigungsvertrags beteiligt. Gibt es etwas, was Sie heute grundsätzlich anders machen würden?

SCHRÖDER: Sowohl den schnellen Weg zur Einigung als auch den - ökonomisch sicher abenteuerlichen - Umtauschkurs finde ich richtig. Diejenigen, die das heute kritisieren, haben noch nie glaubwürdige Alternativen dargelegt. Die Wahrheit ist: Es ging gar nicht anders.

Interview: MATTHIAS GRETZSCHEL,

BARBARA MÖLLER