Die Volksvertreter leiden unter Dauerstress und wollen einen freien Tag pro Woche. Eine parteiübergreifende Initiative müsste her.

Berlin. Nicht alle wollten Andrea Nahles zur Geburt ihrer Tochter gratulieren. Als die SPD-Generalsekretärin im vergangenen Jahr nach kurzer Babypause an den Schreibtisch im Willy-Brandt-Haus zurückkehrte, empfingen sie neben Glückwunschschreiben auch unfreundliche Briefe. Von einem "Egotrip" und von ihrer "Karrieregeilheit" musste sie darin lesen. Das verletzte Nahles, denn sie hatte sich eines vorgenommen: gute Mutter und gute Politikerin - das muss funktionieren. Sie wollte sich Zeit für das Kind erkämpfen. Nahles traute sich, den gesamten Politikbetrieb zu ermahnen: "Die Parteien sollten sich darauf verständigen, dass an einem festgelegten Wochentag - idealerweise am Sonntag - in der Regel alles ruht, was mit Politik zu tun hat."

Die Diskussion um den politikfreien Sonntag hat seitdem neuen Auftrieb erhalten. Denn dieser Betrieb kostet Kraft. Insbesondere in Plenumswochen beginnt selbst für einfache Abgeordnete der Tag oft mit einem Arbeitsfrühstück um sieben Uhr und endet um ein Uhr nachts bei einem parlamentarischen Abend eines der unzähligen Interessenverbände. Präsenz zu zeigen, gehört zu den Grundpflichten von Politikern. Schließlich handelt es sich um Mandatsträger, vom Volk gewählt, also auch fürs Volk verfügbar. An den Wochenenden setzt sich die Terminflut fort. Die Wahlkreise in der Heimat müssen bereist, die Parteibasis besucht werden. Politiker sind mutig, wenn sie ihre Handys ausschalten. Nur wenige tun es regelmäßig. Manche trauen sich nicht, weil sie fürchten, man könnte ihnen mangelnde Leidenschaft vorwerfen. Andere wollen im Spiel der Debatten bleiben, sich selbst in den Nachrichten sehen, hören und lesen. "Nicht nur Politiker drängen in die Medien, sondern die Medien drängen auch die Politiker, sich zu äußern", stellt der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann fest. Es ist ein Geben und Nehmen. Wenn Günther Jauch einen Spitzenpolitiker zum Polit-Talk bittet, wird dieser wohl kaum absagen. Aber dessen Sonntag gehört dann nicht mehr der eigenen Familie, sondern der ARD.

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Viele Volksvertreter leiden still unter mangelnder Freizeit, andere sprechen offen darüber. Seit Nahles vorgeprescht ist, haben sich weitere prominente Politikerinnen ihrer Forderung angeschlossen. SPD-Vize Manuela Schwesig, Mutter eines Sohnes im Kindergartenalter, geht es auch um die Glaubwürdigkeit der Politik: "Wir können nicht von Unternehmen familienfreundliche Arbeitszeiten verlangen, und die Politiker machen das Gegenteil", ist sie überzeugt. Politiker würden sich sonntags weiter auf Volksfesten sehen lassen müssen. "Aber Politik muss auch vorleben, dass Familie sonntags vorgeht", so die Schweriner Sozialministerin.

Schwesig selbst zieht das, was sie sagt, privat rigoros durch. In der Partei ist bekannt, dass Schwesig in ihren Urlauben ihr Mobiltelefon abschaltet und nur über eine Notnummer zu erreichen ist, die nur wenige kennen. Auch ihre Sonntage gehören der Familie. Und wenn der Sohn krank wird, dann sagt die SPD-Vizevorsitzende auch mal bei Parteichef Sigmar Gabriel per SMS ihre Teilnahme an einer Sitzung in Berlin ab. Probleme hat sie damit nie bekommen.

Auch Linken-Parteichefin Katja Kipping hat sich, seitdem sie Mutter wurde, für den politikfreien Sonntag stark gemacht. Sie nehme sich "ganz sturköpfig" jeden Tag Zeit für ihre Tochter. Als Kipping vor kurzem Termine in Hamburg hatte, achtete sie genau darauf, bloß keinen zu späten Zug nach Berlin zu erwischen. Sie wollte an dem Tag einfach noch Zeit für ihre Tochter haben. Die 34-jährige Parteichefin hat sich auch mit Familienministerin Kristian Schröder (CDU) darüber ausgetauscht, wie man als Spitzenpolitikerin mit Kleinkind den Alltag meistern könne. Beide seien sich einig geworden: "Wir brauchen politikfreie Sonntage." Nun meldet sich erstmals ein Mann aus der ersten Reihe der Politik zu dem Thema zu Wort. Es ist Rainer Brüderle, FDP-Fraktionschef im Bundestag, 67 Jahre alt, ein liberales Urgestein, das sein gesamtes Berufsleben in der Politik verbracht hat. Er war Landesminister, Bundesminister, und er will im kommenden Jahr bei der Bundestagswahl erneut antreten.

Was den Drang nach mehr Freizeit betrifft, bleibt er pessimistisch: "Ich würde es sehr begrüßen, wenn der politikfreie Sonntag kommt. Aber ich sehe dafür keine realistische Chance." Er sagt, dass seine Frau und er sich freuen würden, wenn es öfter Zeit für Sport oder Kultur gäbe. "Hektik tut politischen Entscheidungsprozessen oft nicht gut. Aber daran könnten wir nur alle zusammen etwas ändern." An dieser Gemeinsamkeit des Handelns hat er so seine Zweifel. "Alle, die den politikfreien Sonntag fordern, setzen sich damit nicht durch oder halten sich am Ende selbst nicht daran." Er gehöre immerhin zu denen, die sich nicht jeden Sonntag zu Wort melden.

40 Jahre an Erfahrung aus der Bonner und Berliner Republik haben ihm die Illusionen über ein anderes Selbstverständnis der Politik geraubt. Der Spielraum der Selbstbestimmung sei sehr eng, so Brüderle. "Wer in die Politik geht, muss eine gute Gesundheit haben und bereit sein, viel zu arbeiten." Denn das größte Problem in diesem Job sei das hohe Schlafdefizit. Und: "Innerhalb der Woche sind die Terminkalender voll." So habe er auch FDP-Parteitage in Rheinland-Pfalz bisher immer auf die Wochenenden gelegt, weil die meisten Mitglieder in der Woche zur Arbeit gehen müssten. Dabei wollte der Liberale einmal alles besser machen. Er habe schon Mitte der 80er-Jahre zusammen mit dem damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel (CDU), einen politikfreien Sonntag gefordert. "Wir haben es damals probiert, aber es wurde nicht durchgehalten", bedauert der Liberale.

Anders als Brüderle hält Politikforscher Alemann einen Paradigmenwechsel für möglich. Jeder erste Sonntag des Monats könnte von politischen Veranstaltungen freigehalten werden, schlägt Alemann vor. Doch wer soll dafür den Anstoß geben? Alemann denkt da an Joachim Gauck oder Norbert Lammert, deren überparteiliches Wort auf Gehör stoßen könnte: "Die Politiker sollten sich durch den Bundespräsidenten oder den Bundestagspräsidenten zu mehr Familienfreundlichkeit verpflichten lassen. Dafür braucht man kein Gesetz, aber eine moralische Instanz."