Der Bundespräsident wünscht sich von der Bundeskanzlerin bessere Erklärungen in der Euro-Krise. Dafür erntet das Staatsoberhaupt Kritik.

Berlin. Die Schonfrist von 100 Tagen, die man neuen Amtsträgern hierzulande zubilligt, hat Joachim Gauck bereits hinter sich. Seit 112 Tagen ist der Pastor und Bürgerrechtler im höchsten Staatsamt, das dieses Land zu vergeben hat. Und er hat sich darin eingefunden. Seine bisherigen Reisen, vor allem jene nach Israel, gelten als erfolgreich. Zu keiner Zeit seiner bald viermonatigen Amtszeit konnten die Deutschen den Eindruck gewinnen, ihr Präsident stehle sich bei einem Thema davon, ducke sich vor klaren Ansagen weg, vermeide einen möglichen Konflikt. Wenn es sein muss, ist der 72-Jährige auch undiplomatisch. So war er schon vor dem Amtsantritt, und diese Eigenschaft will er sich offenkundig bewahren.

Sein Interview, das er dem ZDF nun gab und das gestern Abend ausgestrahlt wurde, könnte die Bundeskanzlerin durchaus als persönlichen Angriff werten. "Sie hat nun die Verpflichtung, sehr detailliert zu beschreiben, was das bedeutet, auch fiskalisch bedeutet", sagte Gauck über Merkel und forderte die Kanzlerin damit auf, den Bürgern die Chancen und Risiken der Euro-Rettung zu erklären. Er stellte klar, dass dies nicht seine Aufgabe sei. "Ich bin auch keine Ersatzregierung", so der Bundespräsident. "Wenn's bei der Regierung schiefgeht, kann die Bevölkerung nicht vom Bundespräsidenten erwarten, dass er's dann richtet. Das ist nicht seine Aufgabe", sagte Gauck auf die Frage, ob er sich in der Finanzkrise nicht stärker einmischen müsste. Dabei hatte sich Gauck Ende Juni de facto längst eingemischt, indem er die Gesetze zumEuropäischen Stabilitätsmechanismus ESM und zum Fiskalpakt auf Bittedes Bundesverfassungsgerichts vorerst nicht ausfertigen will.

Nicht allein Merkel, sondern den gesamten politischen Betrieb nahm Gauck nun kritisch unter die Lupe: "Manchmal ist es mühsam zu erklären, worum es geht. Und manchmal fehlt die Energie und die Entschlossenheit, der Bevölkerung sehr offen zu sagen, waseigentlich passiert." Außerdem sei er "froh" über die Klagen gegen den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM: "Die Kläger haben alles Recht, ihre Sorgen zum Ausdruck zu bringen." Er wünsche sich eine breite gesellschaftliche Debatte. Gefragt nach seinem Verhältnis zur Kanzlerin, suchte Gauck dann doch nach einer diplomatischen Formel. "Ich habe andere Aufgaben, und ich könnte nicht, was sie kann und was sie gerade leistet." Er sehe, dass in den Medien mit den Figuren Gauck und Merkel gespielt werde, aber ihr Verhältnis sei unbelastet. "Da ist nichts."

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Wirklich nicht? Der Merkel-Biograf und Parteienforscher Gerd Langguth aus Bonn sieht es anders. Seiner Meinung nach machte es sich Gauck zu einfach, indem er Merkel in die Erklärpflicht nahm. Dem Abendblatt sagte Langguth, auch der Bundespräsident habe alle Möglichkeiten des Erklärens. "Das ist ja gerade die Stärke Gaucks. Er besitzt einen privilegierten Zugang zu allen Informationen. Gauck, der der Obererklärer der Nation sein sollte, bleibt hier unter seinen Möglichkeiten", kritisierte Langguth. Der Politologe sagte weiter, es sei natürlich richtig, dass der Bundespräsident nicht die Regierung sei. Und in der Tat müsse auch die Regierung ihre hochkomplexe Politik in der Euro-Krise erklären.

Zugleich stellte Langguth zwischen Gauck und Merkel "eine Art Rivalität" fest, die aber mehr vom Bundespräsidenten ausgehe. "Wie alle Bundespräsidenten zuvor hat auch Gauck ein Problem damit, dass er sich als Bundespräsident vom Kanzler beziehungsweise der Kanzlerin nicht ernst genommen fühlt. Darunter litten auch die Bundespräsidenten bei Helmut Kohl und Gerhard Schröder."

Merkels momentanes Leiden stellt aus Langguths Sicht die neue Machtarithmetik Europas dar. Die Wahl des französischen Staatspräsidenten François Hollande habe "Sand ins Getriebe von Merkels Europapolitik gebracht". Es sei eine alte Erfahrung, dass europäischer Fortschritt nur dann möglich sei, wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen, sagte der Parteienforscher. Aber davon ist derzeit wenig zu spüren. In der Euro-Krise vertraten Merkel und Hollande zuletzt unterschiedliche Auffassungen über den besten Weg. Während Merkel ihren strikten Sparkurs verfolgte, warb Hollande seinerseits für mehr Ausgaben, um die Konjunktur anzukurbeln. Und er übte Kritik an der deutsch-französischen Achse, mit der Merkel und Hollande-Vorgänger Nicolas Sarkozy die Europapolitik geprägt hatten. "Ich bin nichtsicher, ob es gewollt war, aber zuweilen konnten sich bestimmte Länder ausgegrenzt fühlen, oder sie waren gezwungen, einen Kompromiss zu akzeptieren, der bereits von unseren zwei Ländern ausgearbeitet war", so Hollande.

Merkel ließ sich gestern von der Rüge nichts anmerken, als sie in Reims mit Hollande den 50. Jahrestag der deutsch-französischen Aussöhnung feierte. Es war ein Anlass, der nach Pathos rief. Auf Französisch sagte Merkel beim Festakt: "Es lebe die deutsch-französische Freundschaft." Am 8. Juli 1962 hatten der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer und der frühere französische Präsident Charles de Gaulle in einer Versöhnungsmesse den Frieden der beiden Nachbarländer besiegelt. Hollande würdigte gestern Adenauer undde Gaulle für "den Mut, sich nach so viel Schmerz eine gemeinsame Zukunft vorzustellen". Adenauer und de Gaulle hatten damals mit einem symbolischen Handschlag die Feindschaft zwischen den Ländern begraben. Merkel und Hollande stellten die Staatsfreundschaft nun mit einem gegenseitigen Kuss auf die Wange unter Beweis. Noch steckte mehr Symbolik als echte politische Freundschaft hinter der Geste. Laut Gerd Langguth könnte sich dies demnächst ändern. Er gehe davon aus, dass Hollande wegen seiner erheblichen Haushaltsprobleme in einigen Monaten viel freundlicher mit Merkel umgehen werde.