Anwälte erhoffen sich Aufklärung über Urheber der Schredder-Aktion bei dem Geheimdienst. Informationen zur NSU-Affäre können wohl wieder hergestellt werden

Hamburg/Berlin. Müssen Bundes- und Staatsanwaltschaft nun gegen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vorgehen? Nach der Strafanzeige, die die Hamburger Anwältin Gül Pinar gemeinsam mit drei Kollegen und im Namen der Familie des erschossenen Gemüsehändlers Süleyman Tasköprü gestellt hat, scheint es nicht ausgeschlossen, dass die Aktenvernichtung vom 11. November 2011, bei der Unterlagen über die "Operation Rennsteig" vernichtet wurden, ein strafrechtliches Nachspiel hat.

Anwältin Pinar hält die Rechtslage jedenfalls für eindeutig: "Der Verfassungsschutz und seine Mitarbeiter haben eine Verpflichtung, den Staatsanwaltschaften alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die zur Aufklärung von Staatsschutz-Straftaten verfügbar sind. Deshalb ist das Vernichten solcher Unterlagen strafbar." Damit nicht noch mehr solcher Akten vernichtet werden könnten, sollte ein Durchsuchungsbeschluss für die Räume des BfV in Köln erwirkt werden, so Pinar: "Es haben sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass in den Computern des Bundesamtes weiteres Material zu den vernichteten Akten zu finden ist. Dieses Material muss sichergestellt werden, bevor es beiseite geschafft werden kann." Von der Strafanzeige erhofft sich die Anwältin auch Aufklärung darüber, ob der Referatsleiter, der die Schredderaktion durchgeführt haben soll, im Auftrag handelte.

Die Bundesanwaltschaft bestätigte den Eingang der Strafanzeige. Ein Sprecher der Anklagebehörde sagte: "Ich gehe davon aus, dass wir den Vorgang an die Staatsanwaltschaft in Köln weiterleiten werden, da die Bundesanwaltschaft lediglich für Staatsschutz-relevante Straftatbestände zuständig ist." Zwar liege der Ursprung dieses Falles in einer Staatsschutz-Sache, doch berühre die mögliche Urkundenunterdrückung keine Belange, die bei der Bundesanwaltschaft bearbeitet werden müssten. Beim BfV wollte man die Strafanzeige nicht kommentieren.

Ungewöhnliches tat sich unterdessen in der Berliner Außenstelle des Verfassungsschutzes: Politiker nahmen Einsicht in ungeschwärzte Akten der Behörde. Sie sollen Aufschluss darüber geben, ob und wie eng die Behörde mit Mitgliedern der Zwickauer Neonazi-Zelle zusammengearbeitet hat. Der Unionsobmann Clemens Binninger erklärte, die Frage sei, ob die Dienste Schlüsselfiguren der Neonazi-Affäre als V-Leute geführt hätten.

Auch der Militärgeheimdienst MAD werde dem Ausschuss voraussichtlich noch diese Woche ungeschwärzte Akten zugänglich machen, kündigte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Stefan Paris, an. Bei den Unterlagen, die die Abgeordneten gestern sichten konnten, handelte es sich um 26 Akten zum Thüringer Heimatschutz (THS) und sieben Akten zur "Operation Rennsteig". Ein kleiner Teil der Papiere stammt vom MAD.

Der Inhalt der 2011 vernichteten Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) über die "Operation Rennsteig", so hieß es gestern im Bundesinnenministerium, ist in großen Teilen rekonstruierbar. Ein Sprecher teilte mit, durch "Paralleldokumente" ließen sich die verlorenen Informationen wieder erschließen.

Entsetzt über die Zustände zeigte sich auch die Sozialministerin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig. "Es reicht jetzt nicht, einfach nur das Personal auszutauschen", sagte die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD dem Abendblatt. Außerdem müsse sich die ganze Bundesregierung die Frage stellen, ob sie das Thema Rechtsextremismus in der Vergangenheit "ernst genug genommen hat". Ein Beispiel dafür sei, dass Innenminister Wolfgang Schäuble die Abteilung Rechtsextremismus 2006 aufgelöst habe. Schwesig hob hervor, dass auch Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) mit ihrer Extremismus-Klausel "auf dem rechten Auge blind" sei. Sie habe mit ihrem Vorstoß alle gegängelt, die sich vor Ort gegen Neonazis engagieren, sagte Schwesig.