Frist zur Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung ist abgelaufen. Doch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger verweigert sich neuem Gesetz.

Berlin/Hamburg. Sie sprachen von einem "besonders schweren Eingriff in das Fernmeldegeheimnis", sogar von inhaltlichen Rückschlüssen "bis in die Intimsphäre" und von möglichem Missbrauch, von dem die Bürger nichts merken würden. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts stellten der Politik am 2. März 2010 ein verheerendes Zeugnis aus, als sie die Vorratsdatenspeicherung in ihrer damaligen Form versenkten. Die Richter in Rot waren überzeugt, dass diese Art der Speicherung von Internet- und Telefonverbindungsdaten zur Strafverfolgung eher dazu geeignet war, "ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen".

Die damalige Ohrfeige aus Karlsruhe hallt noch nach. Die Neuregelung, die Karlsruhe seinerzeit verlangte, ist bis heute von der Bundesregierung nicht auf den Weg gebracht worden. Gestern lief dazu noch eine von der EU-Kommission in Brüssel gesetzte Frist für ein überarbeitetes Gesetz aus. Und die Kritik aus der Union nahm entsprechend wieder an Schärfe zu.

Nur Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zeigte sich von all dem unberührt. Die stellvertretende FDP-Vorsitzende bleibt dabei: Sie will die Daten nur nach konkreten Anhaltspunkten für Straftaten speichern lassen - und beharrt darauf, dieses sogenannte Quick-Freeze-Verfahren einzusetzen. Es hätte nur noch wenig mit dem einst von der Großen Koalition im Jahr 2007 beschlossenen Gesetz zu tun. Damals galt die Regelung, dass alle Telefonunternehmen ein halbes Jahr lang die Daten speichern mussten, wer wann von wo aus mit wem telefoniert hat. Auch SMS- oder E-Mail-Verkehrsdaten wurden gespeichert. Der Inhalt der Gespräche oder Mails wurde jedoch nicht erfasst. Bei Straftaten oder zur Gefahrenabwehr konnten Staatsanwaltschaften, Polizei oder Geheimdienste auf die Daten bei den Telefonunternehmen zurückgreifen.

Das Karlsruher Urteil setzte dem Verfahren dann ein Ende. Der Druck zu handeln stieg erst richtig, als Ende Oktober die EU-Kommission Deutschland die besagte Frist von zwei Monaten setzte, um die EU-Richtlinie zur Speicherung von Verbindungs- und Standortdaten für die Strafverfolgung umzusetzen. Die EU-Behörde hatte dazu eine begründete Stellungnahme verschickt. Nun kann die EU-Kommission gerichtlich vorgehen. In dem sogenannten Vertragsverletzungsverfahren kann die EU-Behörde Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. In letzter Konsequenz kann das Gericht millionenschwere Zwangsgelder verhängen. Ob es zur Klage kommt, wollte sich die EU-Kommission gestern nicht festlegen.

"Es drohen nicht in den nächsten Monaten Strafzahlungen, sondern die drohen erst dann, wenn wir vom Europäischen Gerichtshof wirklich verurteilt sind", sagte dazu die Justizministerin gestern im Deutschlandfunk. Leutheusser-Schnarrenberger verdeutlichte, dass die EU-Richtlinie derzeit überarbeitet werde und dass Deutschland sich an der Evaluierung beteilige. Mehr als fünf EU-Länder hätten die Richtlinie bislang nicht umgesetzt, so die FDP-Politikerin. Und sie stellte klar, dass sie sich erst an ein neues Gesetz setzen will, wenn die neue Richtlinie auf EU-Ebene fertig ist. "Wenn wir dann im Jahr 2012 die überarbeitete Richtlinie haben, dann ist doch ganz klar, dass wir die dann auch in nationales Recht transformieren werden", sagte sie. Die Piratenpartei lobte die Haltung der Ministerin. "Wir begrüßen, dass die Justizministerin der Europäischen Union die kalte Schulter bei der Vorratsdatenspeicherung zeigt. Bei dem Thema ist die Piratenpartei voll auf der Seite von Frau Leutheusser-Schnarrenberger", sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende Bernd Schlömer dem Abendblatt. Die anlasslose Speicherung von Daten verstoße gegen das Grundgesetz und gegen die informationelle Selbstbestimmung. "Sie ist mehr wert als die Verfolgung von Kriminellen." Zudem führe das blinde Sammeln von Daten erwiesenermaßen nicht zu einem größeren Erfolg der Polizei bei der Verfolgung von Einzeltätern, so Schlömer. Das habe die Aufdeckung der Sauerlandgruppe und des Kölner Kofferbombers gezeigt. Er machte klar: "Es geht auch ohne Vorratsdatenspeicherung."

Er kündigte an, 2012 gemeinsam mit Gruppen wie dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung eine Initiative auf EU-Ebene zu starten, mit der die Richtlinie der EU zur Vorratsdatenspeicherung gekippt werden soll. "Um diese Initiative auf den Weg zu bringen, benötigen wir eine Million Unterschriften in ganz Europa", so Schlömer.

Der Chef des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, pochte angesichts des auslaufenden EU-Ultimatums auf eine schnelle Neuregelung. Der "Bild" sagte er: "Die Strukturen organisierter und terroristischer krimineller Netzwerke können angesichts fehlender Vorratsdaten nicht aufgedeckt, schwere Straftaten nicht aufgeklärt werden." Es gebe "reale Sicherheitslücken", die geschlossen werden müssten. Nach Angaben der Zeitung wurden seit dem Karlsruher Urteil vor 22 Monaten von den Sicherheitsbehörden etwa 5500 Auskunftsersuchen an Telefon-, Handy- oder Internetanbieter gestellt. In mehr als 80 Prozent habe es keine Antwort gegeben.