Nach einem erbitterten Streit um Stuttgart 21 hat sich die Mehrheit der Baden-Württemberger für das milliardenschwere Projekt entschieden.

Stuttgart. Stellen Sie sich vor, Sie sind militanter Nichtraucher und müssen in einer Raucherkneipe bedienen. So in etwa muss sich Winfried Hermann fühlen. Der grüne Verkehrsminister im Kabinett von Winfried Kretschmann (Grüne) war der Vorkämpfer der Gegner des geplanten Tiefbahnhofs im Herzen Stuttgarts. Nun, nach dem Misserfolg bei der Volksabstimmung, muss der Parteilinke beim Bau des von ihm verabscheuten Projekts mithelfen.

+++ Stuttgart 21: Abstimmung stößt auf gemischte Resonanz +++
+++ Stuttgart 21: Das Volk hat das Wort +++

Die grün-rote Landesregierung ist insgesamt bei Stuttgart 21 tief gespalten. Die Grünen wollten den Bau unbedingt verhindern, die SPD jedoch ist mehrheitlich dafür. Die Grünen befürchten, dass die bisher auf 4,1 Milliarden Euro bezifferten Kosten aus dem Ruder laufen. Auch Vize-Regierungschef Nils Schmid (SPD) betonte, das Land werde penibel darauf achten, dass der Kostenrahmen von maximal 4,5 Milliarden nicht gesprengt wird. Die Bahn sieht das Land dagegen in der Pflicht: "Auch das Land muss seinen Beitrag leisten, wenn mehr Kosten kommen sollten", sagte Projektsprecher Wolfgang Dietrich.

Die Opposition von CDU und FDP zeigte sich erleichtert. "Mir ist ein Felsbrocken vom Herzen gefallen", sagte FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Er forderte Verkehrsminister Winfried Hermann zum Rücktritt auf. CDU-Landeschef Thomas Strobl sagte: "Jetzt ist Ministerpräsident Kretschmann gefordert: Er muss den verbohrten S21-Gegnern, die weiteren Widerstand angekündigt haben, klarmachen, wie Demokratie funktioniert." Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) freute sich über das Resultat: "Alles andere hätte zu chaotischen Situationen geführt." Die Bauarbeiten sollen bis 2019 dauern. Dann wäre seit den ersten Planungen ein Vierteljahrhundert vergangen.

Fast so kompliziert wie die Planungen war der Stimmzettel für die Volksabstimmung. Er ist von mehreren Ministerien unter Federführung des Innenministeriums entwickelt worden. Die Fragestellung lautete: "Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ,Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21-Kündigungsgesetz)' zu?" Wer für Stuttgart 21 war, musste also mit Nein stimmen. Wer gegen das Projekt war, muss mit Ja stimmen. Enthaltungen waren nicht möglich. Für einen Erfolg der Kritiker wären landesweit bei 60 Prozent Wahlbeteiligung 55 Prozent Jastimmen nötig, um das Quorum von einem Drittel aller 7,6 Millionen Wahlberechtigten zu erfüllen.

+++ Stuttgart 21: Die Kosten des Ausstiegs +++
+++ Stuttgart 21: Wirbel um neuen Bahnhof +++

Davon waren sie am Ende weit entfernt. Doch für die Stuttgart-21-Gegner ist die Sache längst nicht erledigt. Sie rechnen weiterhin mit einem Scheitern des Milliardenprojekts. Stuttgart 21 werde nun an den Kosten scheitern, sagten Brigitte Dahlbender und Hannes Rockenbauch vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. "Die Menschen in Baden-Württemberg lehnen es ab, auch nur einen Cent mehr für den Tiefbahnhof auszugeben als geplant", sagte Dahlbender. "Wir werden die Bahn genau beobachten. Und wir werden uns immer dann zu Wort melden, wenn sie ihre Versprechungen nicht einhält, wenn sie gegen die Verfassung, gegen Gesetze und Verordnungen oder gegen ihre eigenen Richtlinien verstößt."

Die Risse in der Bahnfrage gehen quer durch das ganze Land, wobei direkt Betroffene oft ganz anders entscheiden als Menschen, die nicht unmittelbar am Großprojekt wohnen. Mehr als zwei Drittel der Ulmer haben sich gegen einen Ausstieg entschieden, 30,9 Prozent votierten dafür. Insbesondere Oberbürgermeister Ivo Gönner (SPD) hatte sich als Befürworter des umstrittenen Projekts hervorgetan. Die Donaustadt ist neben Stuttgart so stark wie keine andere mit dem Bahnprojekt verbunden. Der neue unterirdische Hauptbahnhof soll an eine Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm angebunden werden. Viele Befürworter sehen die Trasse in Gefahr, sollte Stuttgart 21 nicht gebaut werden.

Dagegen hat Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) mit seinem Kampf gegen Stuttgart 21 die eigenen Bürger überzeugt: In Tübingen stimmten 57,7 Prozent für den Ausstieg, 42,3 Prozent dagegen. Weil die Wahlbeteiligung mit 62,3 Prozent überdurchschnittlich hoch war, haben die Stuttgart-21-Gegner in Tübingen sogar das Quorum von einem Drittel aller Wahlberechtigten erreicht.

Die Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 sind zur Volksabstimmung gegangen, weil sie eine Kostenexplosion befürchten. Die Befürworter des Tiefbahnhofs hoffen vor allem auf viele neue Arbeitsplätze. Das sind die beiden Hauptmotive der jeweiligen Seite gewesen, wie aus einer Infratest-dimap-Umfrage unter anderem im Auftrag der Universität Stuttgart und der Bertelsmann-Stiftung hervorgeht. Wichtige weitere Argumente waren: Der Zugverkehr wird aus Sicht der Gegner im neuen Tiefbahnhof nicht schneller abgewickelt als bisher, und die Mineralquellen Stuttgarts werden durch die Bauarbeiten gefährdet. Das Entstehen eines neuen attraktiven Stadtviertels und die größeren Grünflächen schlugen aufseiten der Projekt-Befürworter zu Buche.

Bei den Parteipräferenzen zeigt sich das erwartbare Bild: Gegner des Projekts würden zu über 50 Prozent die Grünen wählen. In der Gruppe der Befürworter stellen die CDU-Anhänger mit rund 50 Prozent die größte Gruppe. Unter den SPD-Anhängern sind 23 Prozent für den Tiefbahnhof, 18 Prozent lehnen ihn ab. Zu den Gegnern des Bahnprojekts zählen vor allem die gut ausgebildeten Frauen.