Die Koalition einigte sich auf eine Anhebung der Steuerfreibeträge in zwei Stufen. Im Gegenzug steigt der Pflege-Beitrag. Kritik von der SPD.

Berlin/Hamburg/München. Spätestens um 22 Uhr sollte Feierabend sein. So hatte es sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als Gastgeberin des Koalitionsgipfels im Kanzleramt vorgestellt, als sich um 17 Uhr die Türen hinter der Verhandlungsrunde schlossen. Zu diesem Zeitpunkt wollte die CSU noch den Solidaritätszuschlag senken, Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und FDP-Chef Philipp Rösler jedoch den Steuertarif von der sogenannten kalten Progression entlasten. Ein denkbarer Kompromiss? Fehlanzeige. Dann aber ging alles schneller als erwartet. Um 19.30 Uhr verkündeten Merkel und Rösler zusammen mit CSU-Chef Horst Seehofer ihre Einigung - und vom Soli war keine Rede mehr.

+++ Die CDU und der Mindestlohn +++

+++ 40 Milliarden zusätzlich Steuereinnahmen +++

+++ Koalition zerstritten über die Steuerentlastung ab 2013 +++

Stattdessen sollen die Arbeitnehmer um sechs Milliarden Euro entlastet werden, verteilt auf die Jahre 2013 und 2014. So sollen Steuerfreibeträge angehoben werden, um damit gezielt Arbeitnehmer mit geringen Einkommen zu erreichen. Ab 2013 kostet dies Bund und Länder jeweils zwei Milliarden Euro. Die Abmilderung der kalten Progression, bei der Lohnerhöhungen steuerlich keine Vorteile bringen, will der Bund mit 2,2 Milliarden Euro alleine finanzieren. Hier ist offen, ob die Länder im Bundesrat mitziehen werden. "Es ist der Einstieg aus dem Ausstieg aus der kalten Progression", gab sich Rösler jedoch zufrieden. "Das sind Beschlüsse mit Augenmaß", lobte die Kanzlerin.

Zur Finanzierung der Pflege kommen auf die Beitragszahler allerdings höhere Ausgaben zu. Der Beitrag zur Pflegeversicherung soll 2013 um 0,1 Prozentpunkte angehoben werden, um somit rund 1,1 Milliarden Euro einzunehmen. Das Geld soll vor allem für Demenzkranke investiert werden. Bislang liegt der Beitragssatz bei 1,95 Prozent, für Kinderlose sind es 2,2 Prozent. Eine verpflichtende kapitalgedeckte Zusatzabsicherung für den Pflegefall soll es, anders als im Koalitionsvertrag vorgesehen, nicht geben. Stattdessen will Schwarz-Gelb die freiwillige Zusatzvorsorge stärken. Als Beispiel gilt die staatlich geförderte Riester-Rente, mit der eine freiwillige Pflege-Zusatzabsicherung verknüpft werden könnte.

Die CSU bekam zwar nicht die erhoffte Soli-Senkung, dafür kann sie sich die Einführung des umstrittenen Betreuungsgelds für Eltern auf die Fahnen schreiben. Eltern, die für ihre Kleinkinder keine Krippe in Anspruch nehmen und sie selbst betreuen, erhalten ab 2013 monatlich 100 Euro, ab 2014 dann 150 Euro für das zweite und dritte Lebensjahr des Kindes. Eine Milliarde Euro sollen zusätzlich in die Verkehrsinfrastruktur fließen. Die Einkommensgrenze für Zuwanderer wird von 66 000 Euro auf 48 000 Euro gesenkt, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Ob dieses Paket - vor allem die sechs Milliarden Euro an Steuerentlastungen - tatsächlich umgesetzt wird, werden die kommenden Wochen zeigen. Nicht nur der Bundesrat gilt angesichts der ablehnenden Haltung der Länder als schwer zu nehmende Hürde, nun will die SPD die Entlastungen notfalls gerichtlich verhindern. SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte vor dem Koalitionsgipfel, die Schuldenbremse in der Verfassung sehe vor, dass alle konjunkturell bedingten Steuermehreinnahmen zur Reduzierung des Staatsdefizits verwendet werden müssten. "Sollten CDU/CSU und FDP wirklich gegen diese Vorschrift im Grundgesetz verstoßen, wird die SPD eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht prüfen", sagte Gabriel der "Bild am Sonntag".

+++ Gabriel: "Steuersenkungen sind unverantwortlich" +++

+++ Einigung bei Steuersenkung? Seehofer weiß von nichts +++

Innerhalb der Koalition galt die Lösung der Steuerfrage als Schlüssel für den Durchbruch bei den anderen strittigen Themen. "Wenn es kein Ergebnis gibt, haben wir ein Problem", hatte ein Teilnehmer der Runde gegenüber dem Abendblatt zuvor gewarnt. Schon am Nachmittag, als die Partei- und Fraktionschefs noch ohne die Generalsekretäre und die parlamentarischen Geschäftsführer verhandelten, war von einem zähen Ringen die Rede. Später hieß es, man erlebe im Kanzleramt einen "Kuhhandel" um Themen.

Der Druck, ein Ergebnis ohne Gesichtsverlust für einen der Partner zu erzielen, stieg stündlich. Zumal die Regierung zuletzt in zentralen innenpolitischen Feldern wenig Positives zu vermelden hatte: Das einstige Prestigeprojekt Steuersenkungen geriet zur beispiellosen Hängepartie. Die Beschlüsse zur Pflegereform wurden mehrfach verschoben. Und die Pkw-Maut entpuppt sich als neuer Streit-Dauerbrenner, der auch am vergangenen Wochenende munter fortgesetzt wurde. So empfahl FDP-Generalsekretär Christian Lindner der CSU, das Thema bitte erst 2013 wieder vorzulegen: "Wenn die CSU eine Pkw-Maut will, dann soll sie mit dieser Forderung in die nächste Bundestagswahl gehen." Wenigstens Verteidigungsminister Thomas de Maizière meldete beim Truppenabbau Vollzug. Nur die Laune der Wähler hoben seine Sparbeschlüsse sicher nicht.

Auf der Suche nach guten Nachrichten für Arbeitnehmer hatte vor allem die CDU in den vergangenen Wochen ein Thema für sich entdeckt, das sie nun mit Leidenschaft vorantreibt: den Mindestlohn. Aber seitdem auch die Kanzlerin prinzipiell nichts mehr gegen eine einheitliche Lohnuntergrenze hat, trauen die wirtschaftsnahen Vertreter der Partei ihren Ohren nicht mehr. Eine Woche hatte CDU-Vize Volker Bouffier stillgehalten, um dann Frust abzulassen: "Davon halte ich nichts, um das einmal klar zu sagen", sagte Hessens Regierungschef dem "Spiegel". "Natürlich sollen die Menschen so gut wie möglich verdienen, aber wir können nicht sämtliche Regeln der Ökonomie dafür außer Kraft setzen." Die in Frankfurt gezahlten Löhne passten nicht unbedingt in die Uckermark.

Auch die CSU stritt mit sich selbst um eine klare Haltung zum Mindestlohn. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich kritisierte, ein zu niedriger Mindestlohn sei sinnlose Symbolik, ein zu hoher Mindestlohn koste Arbeitsplätze. Dagegen warb der parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Stefan Müller, darum, die Forderung nach Mindestlöhnen in die Parteiprogramme der Union aufzunehmen. "Wir brauchen branchenbezogene Mindestlöhne, die von den Tarifpartnern vereinbart und von der Politik für alle Unternehmen verbindlich erklärt werden", sagte Müller dem Abendblatt. Zur sozialen Marktwirtschaft gehöre nicht nur eine leistungsfähige Wirtschaft, sondern auch soziale Sicherheit für die Bürger. "Das können Mindestlöhne gewährleisten", so der CSU-Politiker. CDU und CSU seien immer schon die Parteien des sozialen Ausgleichs gewesen. "Wir sollten deshalb eine verbindliche Lohnuntergrenze auch in unsere Programmatik aufnehmen."

Viel deutet darauf hin, dass die Debatte noch an Fahrt gewinnt. Am Montag kommender Woche trifft sich die CDU zum Bundesparteitag in Leipzig. Zur Abstimmung steht dann ein Antrag der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft, der eine Einführung des Zeitarbeit-Mindestlohns als allgemeine Untergrenze und die Einführung einer Mindestlohn-Kommission vorsieht.

Während auch die FDP ihr klares Nein zum allgemeinen Mindestlohn wiederholte, trifft das Thema in der Bevölkerung auf Zuspruch. Laut einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der "Bild am Sonntag" sprachen sich 91 Prozent für die feste Lohnuntergrenze aus. Nur acht Prozent lehnten einen generellen Mindestlohn ab. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) argumentierte, Deutschland stehe ökonomisch sehr gut da. "Doch in den letzten zehn Jahren haben die oberen Einkommen stark zugenommen, während die untersten Einkommen real zurückgegangen sind." Dies könne nicht so weitergehen. Die Ministerin will das umstrittene Vorhaben noch in dieser Legislaturperiode umsetzen. Nach dem CDU-Parteitag müsse mit den Koalitionspartnern sowie Arbeitgebern und Gewerkschaften der gesetzliche Rahmen für eine Kommission abgesteckt werden, die dann die angemessene Höhe des Mindestlohns eigenständig klären solle. Solch konkrete Planungen der stellvertretenden CDU-Chefin dürften die Liberalen kaum erfreuen. Die Fortsetzung des Mindestlohn-Streits ist programmiert.