Ein Leben per Mausklick - die bunte Welt des Internets nimmt immer mehr Jugendliche so gefangen, dass sie kaum noch davon lassen können. "15 Prozent der Patienten in unserer Drogenambulanz für Jugendliche und junge Erwachsene sind viel zu oft und zu lange im Internet unterwegs", sagt Prof. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE).

Vor allem Jungen sind betroffen. Ihre Zahl ist dreimal so hoch wie die der Mädchen. Auch die Vorlieben unterscheiden sich: "Mädchen bevorzugen kommunikative Ebenen, wie Chatrooms, Jungen eher Online- Spiele", sagt Dr. Andreas Richterich, Oberarzt in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychsomatik am UKE.

Man kann seine Identität verändern

Die Gründe dafür, dass Chats und Spiele auf Jugendliche eine solche Faszination ausüben, liegt in der Art der Kommunikation, die wesentlich einfacher ist als im wirklichen Leben: "Insbesondere Jungen genießen es, dass sie bei den Spielen eine direkte Rückmeldung bekommen, zum Beispiel in Form von Punkten oder Ranglisten. Man kann die Folgen seines Handelns sofort sehen, während es im normalen Leben keine eindeutigen, sondern verschlüsselte Rückmeldungen gibt, die teilweise erst viel später kommen", sagt Richterich. Zudem gibt es Spiele, in denen man, um erfolgreich zu sein, nicht mehr schnell, klug oder geschickt sein muss, sondern nur oft genug spielen muss. "Um dort anerkannt zu werden, braucht man nicht gut auszusehen, sich nicht pflegen, nicht besonders gewandt sein, sondern es reicht schon, anwesend zu sein", sagt Richterich. Die Verlockung liegt darin, dass die Spieler sich so eine neu virtuelle Identität verschaffen können, die völlig losgelöst ist von ihrem wirklichen Leben ebenso wie in den Chatrooms.

Als Beispiel nennt Richterich Chats, in denen die Beliebtheit einer Person dadurch angezeigt wird, wie und von wie vielen anderen Teilnehmern sie begrüßt wird, wenn sie den Chatroom betritt. "Doch die Art der Beziehung ist virtuell. Man kann seine Identität verändern und muss nicht an sich arbeiten, um mit anderen Menschen zurechtzukommen, sondern kann allen Konflikten per Mausklick aus dem Wege gehen", so Richterich. Und das funktioniert im realen Leben nicht. Konflikte zu ertragen und an ihrer Lösung zu arbeiten ist etwas, das Jugendliche in der Pubertät lernen müssen. "Der soziale und der materielle Erfolg in unserer Gesellschaft hängen davon ab, wie gut wir gelernt haben, mit schwierigen Situationen umzugehen", sagt der Kinderpsychiater.

Jugendliche sind besonders gefährdet, weil sie in der Pubertät eine Menge zu bewältigen haben: die allmähliche Ablösung vom Elternhaus, Aufbau eines eigenen Freundeskreises und einer Berufsidentität, Anforderungen in Beruf und Schule, erste Liebschaften, Sexualität. "Jugendliche, die bei der Lösung dieser Entwicklungsaufgaben in innere Bedrängnis geraten, nutzen vorübergehend übermäßig das Internet, um sich abzulenken. Sie steigen aber im Laufe der Zeit wieder aus, weil sie merken, dass dadurch ihr Leben, ihre Entwicklung und Perspektive gestört wird", so Thomasius.

Wesentlich schwieriger wird es, wenn Jugendliche mit psychischen Störungen übermäßigen Internet-gebrauch treiben und davon abhängig werden. "Bei Mädchen stehen überwiegend Ängstlichkeit, Depressivität, Essstörungen und Selbstunsicherheit hinter einer solchen Abhängigkeit. Bei den Jungen finden sich nicht selten ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Hyperaktivität oder Störungen des Selbstwertgefühls. Diese seelischen Probleme sind der Motor dafür, dass das Internet benutzt wird, um mit den inneren Defiziten zurechtzukommen", sagt der UKE-Suchtexperte.

Und dann kann sich eine Abhängigkeit entwickeln, mit ähnlichen Anzeichen wie bei Alkohol oder Drogen. "Die Jugendlichen verbringen immer mehr Zeit im Internet. Sie beschäftigen sich gedanklich damit, auch wenn sie gar nicht mehr im Netz sind. Sie bekommen Entzugssymptome, werden innerlich angespannt, unruhig, teilweise aggressiv, nervös und haben das Gefühl, etwas Wichtiges zu versäumen. Wenn Eltern versuchen, den Internetgebrauch zu beschränken, gehen die Jugendlichen heimlich online, zum Beispiel bei Freunden", erläutert Thomasius. Das gesamte Denken und Handeln kreist nur noch um das Internet, andere Interessen wie Schul- oder Berufsausbildung, Hobbys, Freundschaften werden vernachlässigt. Und das kann erschreckende Dimensionen annehmen. Richterich erzählt von dem Fall eines 19-Jährigen, der nur noch zu Hause vor dem Computer sitzt und spielt. Er hat ohne Abschluss die Schule verlassen und seit anderthalb Jahren keine sozialen Kontakte mehr. Jetzt haben sich die verzweifelten Eltern an die Spezialisten im UKE gewandt.

Das Internet wird zur Droge

Das ist sicherlich ein extremes Beispiel. Die Sucht nach dem Internet fängt meist ganz langsam an. Und die Grenzen sind wie bei anderen Süchten auch fließend. "Wie viel Internetgebrauch noch normal ist, ist auch alters- und entwicklungsabhängig. Umso älter jemand ist, umso mehr Informationen muss er beschaffen, und dabei ist das Internet heute unverzichtbar. 13- bis 14-Jährige sollten aber täglich nicht mehr als zwei Stunden Freizeit im Internet verbringen, über den Hausaufgabenbereich hinaus", sagt Thomasius. Um einer Abhängigkeit vorzubeugen, sollten Eltern sich mit den unterschiedlichen Formen des Internetgebrauchs vertraut machen und dann festlegen, in welche Räume die Jugendlichen hineindürfen und wie lange am Tag, abhängig vom Alter und den Inhalten der Webseiten", rät Richterich. Für Jugendliche mit problematischem Computergebrauch gibt es in der Drogenambulanz am UKE jetzt ein Behandlungsangebot. In dem Gruppenprogramm "Lebenslust statt Online-Flucht" lernen sie, ihren Konsum langsam auf ein verträgliches Maß zu reduzieren und Verhaltens-alternativen zum Internet aufzubauen. "Wir motivieren sie, andere Freizeitinteressen wieder aufzunehmen, stellen soziale Kontakte her, fördern Selbstbewusstsein und Kontaktbereitschaft. Das Ziel ist, dass die Jugendlichen wieder zu einem gesunden Umgang mit dem Internet zurückfinden", so Thomasius. Das Angebot richtet sich an 14- bis 21-Jährige.

Infos und Anmeldung 428034217